: Zirpen nach Zahlen
Was entsteht zwischen Mensch, Maschine und Mathematik? Mit dem „TechnoMuseum Oldenburg“, dem weltweit ersten improvisierenden Synthesizer-Orchester, macht sich der Musikwissenschaftler Martin Stroh auf die Suche
Fast zärtlich lässt Martin Stroh seine Finger über die Oberfläche des grauen Kastens gleiten. Mit flinken, präzisen Handgriffen dreht der Musikwissenschaftler der Uni Oldenburg ein paar Knöpfe an dem etwa schreibmaschinengroßen Gerät, das vor ihm auf dem Tisch liegt, und steckt ein paar winzige Stecker in ein Schaltbrett auf dessen Oberseite.
Heute ist der erste Sitzungstag von Strohs musikwissenschaftlichem Blockseminar „TechnoMuseum und fractal music“ im Kammermusiksaal der Universität Oldenburg. Die Themen: praktische Grundlagen elektronischen Musizierens und „fraktale Musik“ – also Komponieren nach mathematischen Berechnungen.
„Das ist ein EMS Synthesizer A von 1974“, erklärt Stroh. „Ein abgeschlossenes, in sich ruhendes Ding – ganz anders als ein Computer.“ Langsam zieht der hagere 62-Jährige in Jeans, verwaschenem Sweatshirt und Sandalen den Lautstärkeregler hoch. Rhythmische elektronische Piepstöne zirpen aus der Box. Stroh lächelt. Er bewegt einen kleinen Joystick: Aus dem kakophonischen Piepsen wird ein Wabern.
Dieses legendäre und äußerst seltene Gerät – Schätzwert etwa 10.000 Euro – hat Stroh mit einem knappen Dutzend anderer Analog-Synthesizer aus den Siebziger- und Achtzigerjahren in der Mitte des Saals im Kreis aufgebaut. Das Arrangement der zirpenden Kästen nennt Stroh das „TechnoMuseum“ Oldenburg: Es ist „das weltweit erste improvisierende Synthesizer-Orchester“.
Der irreführende Name geht auf die ursprüngliche Idee hinter dem Projekt zurück, das Stroh 1997 ins Leben rief. Er wollte ein interaktives Synthesizer-Museum als dauerhafte Einrichtung schaffen, in der Interessierte gemeinsam mit anderen improvisierend Musik machen können. Bis dato existiert das „TechnoMuseum“ jedoch nur im Rahmen von Strohs Lehrveranstaltungen und mithilfe der StudentInnen, die nach und nach im Saal erscheinen.
Benjamin, 22, konnte am heimischen PC zwar schon erste Erfahrungen im Aufnehmen und Produzieren machen, hat aber „keinen Plan von Synthies“ und ist vor allem an deren Bedienung interessiert. David, 26, möchte erfahren, wie elektronische Musik im Allgemeinen funktioniert. Die ist in der Oldenburger Musikwissenschaft stark vertreten, „kein Wunder, bei dieser Koryphäe.“ Stroh beugt sich über seinen Laptop.
Der studierte Physiker, Mathematiker und Musikwissenschaftler hat in den Sechzigerjahren im Experimentalstudio des SWF in Freiburg gearbeitet. Er hat über Musiksoziologie publiziert und erforscht die „Psychologie neuer musikalischer Erfahrungen“. Seit den Achtzigern ist er in verschiedene experimentelle elektronische Musik-Projekte involviert, „aber weniger von der künstlerischen, mehr von der technischen Seite her.“ Er lächelt und beobachtet seine auf dem Schoß gefalteten Hände, die sich unruhig aneinander reiben.
Beim „TechnoMuseum“ interessiert ihn vor allem das Spannungsfeld zwischen algorithmisch strukturierten Kompositionen, der spielerischen Kreativität des Menschen und den immensen Klangmöglichkeiten der Maschine: Alle Synthesizer bekommen von Strohs zentralem Laptop individuelle Rhythmus-Schemata vorgegeben, während die Spieler die Klangfarbe und die Soundeffekte bestimmen.
Offizielles Ende der Synthesizer-Sitzung ist um 20 Uhr. Meist aber geht es länger. „Das werden oft richtige Parties, und manchmal kommen auch noch irgendwelche Freaks aus der Stadt, die gehört haben, dass hier was los ist“, sagt Seminarleiter Martin Stroh.
Mit der einen Hand drückt er den Kopfhörer ans Ohr, mit der anderen bedient er drei Geräte gleichzeitig. Sein Blick schweift in die Ferne. Angestrengt lauscht er – als ob er etwas suche. Irgendwo in diesem Piepsen und Schwirren muss es sein.
Till Stoppenhagen
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