lyrische lubrikation von ILKE S. PRICK
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Meine Freundin ist hart im Nehmen. Sie war auf vielen Lesungen und scheut keine dunklen Hinterzimmer. Auch mit Texten ist sie nicht wählerisch. „Kommst du mit?“, fragt sie wie immer, und ich denke wider besseres Wissen an ein nettes Café, um dann auf wackeligen Stühlen zu hocken und mich für anderthalb Stunden zu fragen, wie weit Freundschaft gehen darf.

Auf der Bühne sitzt eine junge Dame mit schwarzer Krankenkassenbrille. „Sie wird gefördert von einer Stiftung“, murmelt meine Freundin. Will sie mich beruhigen? Es folgt eine Geschichte über Nennen-wir-ihn-Andreas und einen missglückten Urlaub. Katzen spielen eine Rolle und Handys auch. Glaube ich jedenfalls. Nach Seite drei habe ich nämlich den Überblick verloren. Das geschieht immer, wenn es um frei fluktuierende Gefühle geht. Eins ist klar: Die Dame mit der Brille will was von Andreas. Aber eigentlich auch nicht. Andreas jedenfalls will nichts von ihr, zunächst, dann irgendwann vielleicht doch. So genau weiß man das nicht, weil da gibt es noch Simone. „Wer ist denn jetzt Simone?“, flüstere ich. Meine Freundin schüttelt nur den Kopf.

Das Fiese an Lesungen mit sitzendem Autor ist, dass man nie die Blätter zählen kann, die noch vor einem liegen. Waren wir nicht eben bei der vorletzten Seite? Nein! Andreas schmiert der Dichterin gerade den Rücken mit Sonnenmilch ein. Der Schweiß läuft und auch andere Dinge, lässt sie uns wissen. Es könnte Seite 18 sein. Mir fallen Staubkörnchen auf, die im Scheinwerferlicht tanzen. Ich seufze, so wunderbar sieht das aus. Doch das Seufzen war ein Fehler. Der Staub ist verschwunden, und es fühlt sich an, als befänden sich nun sämtliche Partikel in meinem Hals. Ich räuspere mich. Ich röchle. Die Dichterin ist gerade dabei, ihre Hose aufzuknöpfen. Im Text, nicht auf der Bühne. Meine Freundin reicht mir Lakritz.

Ich möchte wirklich nicht auffallen an einer Stelle, die mit schweren Schritten einen weiteren Anlauf ins Erotische nimmt. Sollen die Leute hinter mir denken, ich wäre eine prüde Kuh, dass mir so was den Atem verschlägt? Die Hose ist endlich offen, und wir sind mittlerweile auf Seite 23. Ich kriege wieder Luft. „Pass auf, jetzt kommt’s.“ Meine Freundin ist eine Frau mit Erfahrung. „Andreas?“ – „Quatsch!“ Sie grinst. „Schamhaare.“ – „Wie kommst du darauf?“, will ich wissen. „Weil das so ist“, sagt sie. „Im letzten Jahr waren hier männliche Jungautoren, die sich jedes Mal auf Seite sieben übergeben mussten. Oder pinkeln. Oder sonst was in der Richtung. In diesem Jahr sind es Frauen. Und die sind bis jetzt ab Seite 24 immer bei Schamhaaren und Körperflüssigkeiten gelandet.“

Sie hat Recht. Die Dichterin liest von Fingern, die Haare entkräuseln und irgendwo versinken, flutschen und schmatzen und was weiß ich nicht alles. „Wie viel Seiten gibst du ihr noch?“, frage ich meine Freundin. „Drei vielleicht, dann stirbt die Katze.“ Auch da hat sie Recht. Sie kennt sich eben aus in Literatur.

Und ich bin sehr gespannt, was uns im nächsten Jahr ab Seite zwölf erwarten wird.