Rote Karten für die Brüsseler Kommission

EU-Kommissar Bolkestein gesteht Überregulierung ein – und kämpft doch weiter gegen das deutsche Dosenpfand

BRÜSSEL taz ■ Zu einer verblüffenden Erkenntnis ist EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein gelangt. Dem holländischen NRC Handelsblad verriet der Niederländer gestern, seine Institution habe „eine Tendenz zur Überregulierung“. Zu den Plänen des EU-Konvents, künftig nationale Parlamente darüber mitreden zu lassen, ob die EU ihre Kompetenzen überschreitet, sagte er: „Nationale Parlamente sollten nicht nur die gelbe Karte zeigen können, um die Kommission zu stoppen. Sie sollten auch eine rote Karte hervorziehen können, damit die Kommission in ihrer Tendenz zur Überregulierung gestoppt wird.“

Diese Selbstkritik, nur wenige Tage nachdem Bolkestein die geplante Reform der deutschen Verpackungsverordnung bis Anfang Januar auf Eis legte, dürfte vor allem deutsche Umweltpolitiker überraschen. In der Vergangenheit ließ der EU-Kommissar keine Gelegenheit aus, das im Hause Trittin geplante Dosenpfand zu verzögern. Am 21. Oktober will die Kommission darüber entscheiden, ob wegen der derzeit geltenden Übergangsregelung mit ihrem komplizierten Rücknahmesystem ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eröffnet wird.

Nach Ansicht der Binnenmarktwächter benachteiligt das derzeit praktizierte System ausländische Anbieter. Da sie keine reelle Möglichkeit hätten, das Leergut zurückzunehmen, verteuerten sich ihre Produkte in Wirklichkeit um 25 Cent pro Dose gegenüber inländischen Getränken. Die Kommission beruft sich auf Artikel 28 des EG-Vertrages: „Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung sind zwischen den Mitgliedsstaaten verboten.“

Dabei komme es nicht auf den Buchstaben der deutschen Verpackungsrichtlinie an, sondern auf die tatsächliche Situation in den Supermärkten, heißt es in Brüssel. Sogar Umweltkommissarin Margot Wallström hat sich der Kritik angeschlossen. „Es ist nicht sehr hilfreich, wenn man die Flasche, die man im Bahnhofskiosk gekauft hat, dorthin zurückbringen muss.Was wir brauchen, ist ein bundesweites System, wo man die leeren Dosen in jedem Laden zurückgeben kann“, sagte sie vor Journalisten. Da dieses System in den skandinavischen Ländern gewährleistet ist, haben die Kommissare das dortige Zwangspfand nicht im Visier. Zudem fällt es wesentlich geringer aus als in Deutschland.

Warum ausgerechnet Frits Bolkestein, der keine Gelegenheit auslässt, die Mitgliedsländer in die Schranken zu weisen, nun Gewissensbisse bekommt, bleibt sein Geheimnis. Eine denkbare Motivation könnte sein, dass er sich seine berufliche Zukunft nicht verscherzen will. Die Regulierungswut der EU-Kommission wird in Bolkesteins Heimatland von EU-Kritikern ebenso skeptisch beurteilt wie in Deutschland.

Der 70-jährige Politiker, so verriet er dem NRC Handelsblad, würde gern in der nächsten EU-Kommission für weitere fünf Jahre in Brüssel bleiben.

DANIELA WEINGÄRTNER