was denn, keine soße? von RALF SOTSCHECK
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Atul hat schlechte Laune. Soeben haben vier englische Ehepaare sein Restaurant betreten, was nicht weiter verwunderlich ist, liegt es doch im Osten Londons. „Mindestens fünf von ihnen werden Chicken Tikka Massala bestellen, da wette ich“, ärgert sich Atul schon mal vorsorglich. Nachdem er die Bestellung aufgenommen hat, kommt er triumphierend zurück an die Bar. „Es sind sogar sechs“, meint er. „Nur die verblondete Frau und ihr Mann wollen Chicken Balti.“

Was hat er gegen Chicken Tikka Massala einzuwenden? „Es ist nicht indisch“, ereifert er sich. „Das haben uns die Engländer aufgezwungen, weil sie über jedes Essen irgendeine blöde Soße kippen müssen. Frag mal in Indien danach. Keiner wüsste, wovon du redest.“ In England hingegen kennt jedes Kind diese rötliche warme Mahlzeit, sie ist landesweit das bei weitem beliebteste Gericht. Von den knapp drei Millionen Menschen im Jahr, die indische Restaurants aufsuchen, bestellen 14 Prozent Chicken Tikka Massala.

Auch zu Hause kocht der Engländer gern sein indisches Süppchen: Mehrere Supermarktketten bieten es im Kochbeutel an, so dass man es getrost zum Beutel Reis in den Kochtopf legen kann. Den kulinarischen Rest bekam das Gericht von Burger King. Seit fünf Jahren montiert die Fleischbrötchenkette auf Wunsch einen Massala-Burger. Wo das Chicken Tikka Massala herkommt, ist ungewiss. Angeblich soll im Jahre 1970 ein Engländer ein indisches Restaurant in London betreten und Chicken Tikka bestellt haben. „Tikka“ sind „kleine Stücken“, und als sie ihm serviert wurden, soll er entsetzt gerufen haben: „Was denn, keine Soße?“ Der Kellner nahm den Teller wieder mit, öffnete in der Küche eine Dose Tomatencremesuppe von Campbell, schüttete sie über die Hühnerschnipsel und kassierte den doppelten Preis. Na, Hauptsache es hat geschmeckt. Und den Engländern schmeckt es.

Den Restaurants hat der Tikka-Massala-Siegeszug aber wenig genützt, die meisten haben immer noch den Ruf als Futterstationen nach durchzechtem Abend, wo man sich auf das dünne Bier eine dünne Hühnertomatensuppe kippen kann. Das liegt daran, dass die ersten indischen Restaurants in den Fünfzigerjahren von Immigranten aus Bangladesch eröffnet wurden, und die lebten nun mal in den ärmsten Vierteln. Seitdem hat sich die vornehme und entsprechend teure Variante ins Londoner Westend vorgearbeitet. „Seit Jahrzehnten füttern wir die englische Nation“, beklagte sich die Journalistin Yasmin Alibhai dennoch im Guardian, „aber die Leute haben weder vor uns noch vor unserer Küche Respekt.“ Restaurantkritiker verirren sich nur selten in indische Restaurants, irgendwelche Auszeichnungen oder gar Michelin-Sterne sind noch seltener. Vielleicht sollten sie allesamt das Chicken Tikka Massala von der Speisenkarte streichen und England in eine kulinarische Krise stürzen.

„Zwei japanische Geschäftsleute wollen sich den Namen des garstigen Gerichts in Großbritannien patentieren lassen“, sagt Atul. „Hoffentlich gelingt es ihnen. Da wird der Engländer blöd gucken, wenn ihm im japanischen Restaurant plötzlich kalter toter Fisch in einer Tomatencremesuppe serviert wird: Sushi Tikka Massala!“