Weg mit dem alten Ständesystem

Zum einjährigen Jubiläum der Kampagne „9 macht klug“ für eine neunjährige gemeinsame Schule für alle: Christa Goetsch, GAL-Fraktionschefin und Schulexpertin, im taz-Interview über PISA, Visionen und das Abitur für „Schmuddelkinder“

Konservative haben einen statischen Begabungsbegriff, keinen dynamischenVon einer gemeinsamen Schule für alle würden alle Schulen profitieren

Interview:Kaija Kutter

taz: Vor genau einem Jahr hat die GAL die Kampagne „9 macht klug“ für eine neunjährige gemeinsame Schule für Alle gestartet. In Hamburg hat das keine Spuren hinterlassen ...

Christa Goetsch: Das stimmt nur zum Teil. Mit der PISA-Debatte ist die Diskussion inzwischen auch bei der CDU angekommen. Doch nach dem Chaos des FDP-Bildungssenators Rudolf Lange ist der Senat jetzt ideologisch noch antiquierter geworden, weil man die Schüler noch schärfer sortieren und homogenisieren möchte. Als Beispiel wären hier die nochmalige Aufteilung in drei Abschlüsse für Hauptschüler zu nennen, die Einrichtung von Hochbegabtenklassen und die Abschaffung der Integrativen Regelklassen.

Dann war ihre Kampagne wirkungslos?

Keineswegs. Außerhalb der Bildungsbehörde ist viel in Bewegung geraten. Die GAL hat die Grünen bundesweit überzeugen können, die Strukturfrage zu stellen. Die Idee der Schule für alle findet Zuspruch vom Bundeselternrat über die GEW bis zur Handwerkskammer und der Patriotischen Gesellschaft.

Und, ganz wichtig, wir haben die SPD erreicht. In Schleswig-Holstein hat die Partei einen Beschluss für eine gemeinsame Schule gefasst. Und auch in Hamburg bekennt sich die SPD eindeutig zur integrierten HR-Schule, was noch unter Rot-Grün nicht möglich war.

Warum verweigern die Konservativen so hartnäckig die Diskussion ums dreigliedrige Schulsystem? Bildungssenatorin Dinges-Dierig tut die Strukturdebatte als „von gestern“ ab.

Das ist ein spezifisch deutsches Phänomen. Das dreigliedrige Schulsystem orientiert sich am alten Ständesystem. Es ist tief verankert, dass diese drei Stände erhalten bleiben sollen. Dabei sagt selbst die Handwerkskammer Baden-Württemberg, wir haben diese Situation heute nicht mehr, wir brauchen Menschen mit höheren und qualifizierteren Schulabschlüssen. Und die Konservativen gehen von einem statischen Begabungsbegriff aus und nicht von einem dynamischen. Wir gehen davon aus, das sich die Potenziale der Kinder zu unterschiedlichen Zeiten entwickeln.

Wenn man nun, wie die CDU fordert, Intelligenztests in Klasse drei macht und sagt, jetzt stellen wir mal fest, wer begabt ist, ist das eine falsche Festlegung, die nicht zum Erfolg führt.

Geht es hier auch ganz egoistisch um die Zukunftschancen für den eigenen Nachwuchs? Gebildete Schichten finden es vielleicht gar nicht so gut, wenn viel mehr als ihre eigenen Kinder Abi machen?

Eltern wollen für ihre Kinder immer das Beste. Aber es gibt sicherlich auch Eltern, die ihre Kinder nicht gern mit „Schmuddelkindern“ in eine Klasse schicken wollen. Aber klar ist doch, dass gerade in einer Schule für alle mehr Kinder das Abitur schaffen. Und wir wollen doch mehr Abiturienten. Wir sind hier im EU-Vergleich ganz hinten. Das gilt vor allem für Bayern, die mit 20 Prozent das Schlusslicht in Deutschland bilden. Wir brauchen viel mehr qualifizierte junge Leute, auch für die Anforderungen in den Berufen. Schweden und Finnland haben eine Abiturientenquote von 60 und 70 Prozent.

Wie können Sie die CDU überzeugen?

Die CDU muss selbst sehen, was sie tut. Unser Ansatz ist, auch die Eltern zu überzeugen, die ihr Kind aufs Gymnasium schicken. Denn auch die leistungsstärkeren Schulen würden von einer gemeinsamen Schule für alle, wie wir sie wollen, mit individualisiertem Unterricht profitieren.

Aber ist es nicht frustrierend, zu wissen, wie es geht, und es nicht umsetzen zu können?

Ich bin nicht frustriert, sondern recht optimistisch. Für die Ganztagsschule und die autonome Schule haben wir Grüne vor zehn Jahren in Broschüren geworben, heute wird sie von allen Bildungsexperten gefordert – auch von der CDU.

Also, was tun Sie jetzt?

Wir werden jetzt die neun Bausteine unserer Vision noch weiter ausarbeiten und konkretisieren. Wir werden noch gezielter Elternräte und Referendare informieren und zu jeder Haushaltsberatung Anträge stellen, wie Schule und Schulsstruktur Schritt für Schritt umgebaut werden können. Und wir werden bei der Schulstandortdebatte einhaken und fragen, wie gute Schule aussehen soll. Frau Dinges-Dierig geht hier ja sehr technokratisch vor. Sie macht auf mich den Eindruck, sie haben den Auftrag etwas abzuwickeln, statt bildungspolitische Visionen zu entfalten.