Gottes Cheerleaderin

Auch wenn sie manchmal einige Balkons zu viel in ihre Tonfolgen einbaut, ist Mariah Carey doch die liebreizendste der großen Diven. Nur die letzte 17-Oktaven-Steigerung fiel bei ihrem Berlin-Auftritt aus

von CHRISTIANE RÖSINGER

Sie ist eine wirkliche Diva: Mariah Carey, die Frau mit der Fünf-Oktaven-Stimme (manche wollen auch schon sieben gezählt haben). Ihr Filmdebüt „Glitter“ floppte zwar, die Plattenfirma EMI droppte sie zwar, aber das war nur eine Phase. Ja, man hörte Besorgniserregendes: Nervenzusammenbruch, Sanatorium, am Höhepunkt der Krise, so hieß es, wäre sie in totaler nervlicher Zerrüttung sogar 60 Kilometer für eine Tüte Chips gefahren, was immer das auch heißen mag.

Eine schwere Kindheit liegt hinter ihr, irische Opernsängerinnenmutter, venezolanischer Flugzeugtechnikervater. So war sie, laut Selbstauskunft, allen suspekt: den Weißen zu schwarz und den Schwarzen zu weiß. Hierzulande war das kaum aufgefallen, bis Thomas Meinecke in seinem letzten Roman „Hellblau“ die Frage aufwarf: „Welche Farbe hat Mariah Carey?“

Die schwere Kindheit setzte sich in weiteren Schicksalsschlägen fort. 1988 traf die junge Mariah auf den zwanzig Jahre älteren Sony-Chef, er nahm sie unter seine Fittiche und produzierte ihr erstes Album. Es kam, was kommen musste: Heirat, goldener Käfig, Scheidung, Brustvergrößerung. Grundsätzlich reist die Sängerin mit 40-köpfiger Crew, inklusive einer fest angestellten Obstschälerin. Da mag nun der Laie den Kopf schütteln, aber wer kennt nicht das schmerzhafte Gefühl, wenn im Winter vom Orangenschälen die Haut unter den Fingernägeln ganz sensibel wird und der Fruchtsaft zusätzlich ätzt? Eine Sängerin, die den Titel „Best selling female Artist of the Millennium“ trägt, darf ja wohl ein paar Marotten haben; denn eine Diva ist eben nicht der prima Kumpel von nebenan.

Strahlend lächelnd, fast schüchtern läuft diese Mariah Carey am Montagabend seitlich durchs Publikum in die fast halb volle Max-Schmeling-Halle ein. Das Bühnenbild zitiert Moulin Rouge, Videoleinwände zeigen Toulouse-Lautrec, seltsamerweise steht während der ganzen Show ein rot befrackter Minstrelshowtänzer an einer Staffelei und gibt in übertriebenen Bewegungen vor zu malen. Dazu agieren die Tänzer in farbenfrohen Faschingskostümen zwischen Latinlook, Adidas-Punk, Can-Can-Verruchtheit und Geisha-Demut. Mit den Hits früher Jahre beginnt das Konzert. Mariah tiriliert wie ein Vögelchen in den höchsten Tönen, sänge sie noch höher, könnte das menschliche Gehör wahrscheinlich nicht mehr folgen. So glaubt man manchmal in den höchsten Kieksern Walgesänge oder Trillerpfeifen, jedenfalls nichts Menschliches mehr zu hören. Bei aller bewunderten Technik hat die Carey’sche Koloratur auch etwas Effekthascherisches. Jede kleine Note muss mit Ornamenten verziert, zur Bluenote variiert werden. Keine Silbe wird ausgesungen, ohne ein paar Tonbalkons und Giebelchen dranzubauen.

Dann wechselt das Bühnenbild, wir sind im Zirkus. Eine Tänzerin mit Wuschelhaar und Clown-Outfit wird von stelzenlaufenden Anzugmännern an langen Strippen gehalten. Im ergänzenden Video „Marionette Theatre“ schwirren Dollarzeichen über die Leinwand. Hier wird wohl Mariahs Gefangensein in der Ehe mit dem Sony-Millionär thematisiert. Sie zieht sich mehrmals um, wobei der untere Kleidersaum stets mit der Unterhose abschließt und auch die langen Abendkleider immer bis zum Schritt geschlitzt sind, was den Blick auf ihre sehr ausdefinierten Beine freigibt.

Die Videos in den Umziehpausen zeigen, mit wie vielen krassen Rappern die Diva schon gesungen hat. Jay-Z, Busta Rhymes, Members of Wutang-Clan tauchen auf und Mariah gibt sich in Boxershorts und Tanktop als nettes Mädchen, das auch gerne mal mit den HipHoppern abhängt. Sie singt einige Stücke ihrer neuen Platte „Charmbracelet“, das Größte aber sind ihre Balladen, allen voran der Schmachtschinken „Without You“. Diese sanft beschwichtigenden Handbewegungen, mit denen sie sich beim Singen selbst stützt! Der alte Heuler ist immer noch ergreifend, auch wenn die letzte große 17-Oktaven-Steigerung ausfällt.

Huldvoll Hände schüttelnd schreitet sie bei „Hero“ die erste Fanreihe ab, alles strahlt im Glanz der Sängerin. Man vergleicht zurzeit ja gerne die weiblichen Showgrößen miteinander und sucht eine Madonna-Nachfolgerin zu küren. Mariah Carey aber fällt in eine ganz andere Kategorie als Christina, Britney, Beyoncé und J.Lo – sie gehört zu den großen Old-School-Sängerinnen. Scheint ihr Sex-Appeal auch mühsam antrainiert, hat sie auch weniger Soul als die zurzeit schwer durchgeknallte Whitney Houston, so ist sie doch viel sympathischer als die schon äußerlich vor Ehrgeiz zerfressene Céline Dion. Mariah Carey bleibt in der Gesamterscheinung die liebreizendste der großen Diven.