Große und kleine Abweichler

13 Berliner Abgeordnete von SPD und Grünen haben mitgerungen: Am Freitag verabschiedet der Bundestag die Arbeitsmarktreform à la Hartz. Nur einer erwägt immer noch, nicht Ja zu sagen

von ROBIN ALEXANDER

„Sie fragen zu früh“, sagt Eckhardt Barthel am Mittag. Das hat der SPD-Abgeordnete aus Tempelhof-Schöneberg schon am Morgen gesagt, am Vortag und in der letzten Woche. Barthel blieb freundlich, war zum Schluss jedoch ein klein bisschen genervt.

Es geht um das „3. u. 4. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, kurz Hartz III und IV genannt, über das am Freitag im Bundestag abgestimmt wird. Barthel ist keiner der sechs potenziellen Abweichler in der SPD-Fraktion. „Unser Chef ist Barthel (Berlin), Sie suchen nicht etwa Barthel (Starnberg)?“, warnt sein Büro anrufende Journalisten. Der gleichnamige Fraktionskollege aus dem Bayerischen hat gegen die Gesundheitsreform gestimmt. Barthel (Berlin) ist nur ein Mini-Abweichler. Als Fraktionschef Franz Müntefering seine Schäfchen aufforderte, ihm Bedenken gegen die geplanten Gesetze schriftlich mitzuteilen, schrieb Barthel (Berlin) einen Brief. Jetzt, nach Änderungen am Entwurf, zwei Fraktionssitzungen und einer Probeabstimmung, wiegen seine Bedenken nicht mehr so schwer. Und endlich legt er sich fest. Beinahe: „Höchstwahrscheinlich werde ich zustimmen, nicht zuletzt, weil ich das Herzog-Papier gelesen habe.“

Die Pläne der Union seien viel schlimmer. Deshalb dürfe man die rot-grüne Koalition nicht platzen lassen. Das ist das Hauptargument der neun Berliner SPD-Abgeordneten. Neben Barthel haben auch Swen Schulz aus Spandau und Jörg-Otto Spiller aus Mitte Briefe an den Fraktionschef geschrieben. Und Petra Merkel aus Charlottenburg-Wilmersdorf: Die 56-Jährige teilte ihrem Vorsitzenden mit, sie halte es für bedenklich, dass angesparte Altersvorsorge angeknabbert werden müsse, bevor es Arbeitslosengeld gebe. „Das hat meine Leute umgetrieben.“ Die Leute sind die AG Hartz-Initiative, eine Gruppe von Selbstständigen, Arbeitslosen und Leuten mit Zeitverträgen, die sich in Merkels Wahlkreis mit den Hartz-Vorschlägen auseinander gesetzt hat. Denen kann die Abgeordnete jetzt Erfolg melden: Pro Lebensjahr bleiben jetzt 400 statt 200 Euro der Altersversorgung unangetastet. Die Regierung hat Zugeständnisse gemacht. Das haben Merkel und die anderen Briefschreiber damit erreicht, dass sie so lange die Frage nach ihrer Zustimmung offen ließen.

Glücklich wirkt die Abgeordnete trotzdem nicht. Glücklich wirkt nur Klaus Uwe Benneter (SPD), der Steglitz-Zehlendorf vertritt – und den Bundeskanzler. „Die Gesetze folgen Gerd Schröders Agenda-Logik: fördern und fordern.“ Die Briefeschreiber unter seinen Kollegen versteht Benneter nur bedingt: „Unser Parteitag hat die Grundentscheidung getroffen, daran muss sich die Fraktion halten.“ Was jenseits von Agenda-Logik sozialdemokratisch ist, treibt Wolfgang Thierse (SPD) um. Der Bundestagspräsident, der sein Mandat in Pankow gewann, hält sich bei der aktuellen Diskussion auffallend zurück. Thierse konzentriert sich auf die SPD-Grundsatzdebatte, „um über die Politik der Notwendigkeit hinaus eine Perspektive aufzuzeigen“. So unterschiedlich die Beweggründe, so gleich das Ergebnis: 9 Berliner SPD-Stimmen, 9-mal Zustimmung am Freitag.

Noch gar nichts sicher ist bei den Grünen. Verbraucherministerin Renate Künast kann sich als Regierungsmitglied kein Wackeln leisten. Franziska Eichstädt-Bohlig verweist auf das Haushaltsbegleitgesetz. Darin wird die Kürzung der Entfernungspauschale und der Eigenheimzulage beschlossen. Ebenfalls am Freitag. „Hartz nimmt die Arbeitslosen ran – da ist es nur gerecht, wenn wir auch andere Teile der Gesellschaft rankriegen.“ Diese Tage im Reichstag erlebt Eichstädt als „der blanke Wahnsinn“. Ab 7.30 Uhr jage eine Sitzung die nächste. „Wir haben hier alle eine Elefantenhaut, aber das geht an die Substanz.“

Werner Schulz gibt in diesen Tagen keine Interviews. Überhaupt keine öffentlichen Äußerungen. Seit Tagen nicht mehr. Er hat schon alles gesagt: Die Reformen haben eine soziale Schieflage. Die Herabsetzung des Existenzminimums auf Sozialhilfeniveau sei falsch, die Sozialhilfe überhaupt zu niedrig. Die neuen Gesetze würden die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht lösen. Diese Haltung hat viele Beobachter verwirrt. Schulz, der in der DDR der SED widersprach und bei den Grünen Joschka Fischer, galt vorher nicht als Linker. Sein Mandat verdankt Schulz einer unorthodoxen grünen Basis im verwestlichten Ostbezirk Pankow. Dorthin wollte Schulz auch gestern Abend gehen, Gespräche führen und sich Rat holen. Zustimmung ist bei Schulz kaum denkbar. Enthaltung oder Gegenstimme die offene Frage.

Auch Christian Ströbele erklärte gestern zunächst, er habe sich noch nicht entschieden. Trotzdem reklamierte der erfolgreiche Direktkandidat aus Friedrichshain-Kreuzberg schon einen Erfolg für sich: „Unser Besuch beim Bundeskanzler hat sich gelohnt.“ Ströbele und zwei andere Abgeordnete hatten frühzeitig Bedenken signalisiert und wurden darauf von Schröder persönlich zum Tee gebeten: „Damals haben wir gesagt, uns sind die Zumutbarkeitsregeln zentral wichtig.“ Das habe Schröder verstanden. Nun sollen Arbeitslose nur noch Minijobs annehmen müssen, bei denen der ortsübliche Lohn gezahlt wird. In Ströbeles Worten: „Jetzt ist der Deckel nach unten zugemacht.“

Mit hoher psychischer Belastung als Abgeordneter kennt Ströbele sich aus. Tagelang waren er und seine Mitstreiter 1999 beim Kosovo-Einsatz bedrängt worden. Der 29-jährige grüne Neinsager Christian Simmert erlitt sogar einen Hörsturz. „Heute ist die Situation eine andere“, erklärt Ströbele: „Bei der Kriegsfrage gab es nur ein Ja oder ein Nein. Bei der Arbeitsmarktreform sind Kompromisse möglich.“ Wird er also zustimmen? Mittags hieß es noch: „Sie fragen zu früh.“ Am Abend deutet Ströbele ein „Ja“ an: „Diesmal hat sich die Linke durchgesetzt.“