Mit-, nicht gegeneinander

Der deutsche Föderalismus braucht Reformen. Doch um in der EU handlungsfähig zu bleiben, benötigen die Bundesländer nicht mehr, sondern weniger Wettbewerb

Um den föderalen Konsenszwang zu brechen, kann die EU durchaus als Vorbild dienen

Der deutsche Föderalismus bedarf dringender Reformen – seit fast dreißig Jahren wird über diese Notwendigkeit diskutiert. Erstaunlicherweise spielt dabei jedoch kaum eine Rolle, dass jeder Ansatz für eine solche Reform berücksichtigen muss, dass die Bundesrepublik inzwischen Teil eines größeren föderalen Systems geworden ist. Die Europäische Union besitzt heute auf fast allen Politikfeldern eigene Gesetzgebungsrechte. Rechte, die ihr vom deutschen Gesetzgeber – Bund wie Ländern – durch die europäischen Verträge von Rom bis Nizza freiwillig übertragen worden sind.

Bislang wird die deutsche Debatte von dem Gedanken bestimmt, der Föderalismus benötige „mehr Wettbewerb“. Gemeint ist die Entflechtung der Gesetzgebungsbefugnisse zwischen Bund und Ländern. Die Länder sollen mehr politische und finanzielle Eigenverantwortung erhalten und dafür im Gegenzug auf Mitspracherechte über den Bundesrat verzichten. Eine klare Abgrenzung der Zuständigkeiten gilt als Ausweg aus dem föderalen Reformstau.

Auch aus europäischer Sicht macht dieser Reformansatz einerseits Sinn. Andererseits würde bei konsequenter Umsetzung eine so nachhaltige Zentralisierung der politischen Macht bewirken, dass vom deutschen Föderalismus am Ende nicht mehr viel übrig bliebe. Sichern können sich die Länder ihren Handlungsspielraum daher nur, wenn sie selber im Zuge der Reform europatauglicher, das heißt effizienter und handlungsfähiger werden. Europatauglichkeit bedeutet in diesem Fall allerdings damit nicht mehr, sondern vor allem weniger Wettbewerbsföderalismus.

EU-Recht steht über nationalem Recht, so wie Bundesrecht Landesrecht bricht. Faktisch ist Deutschland also schon längst zu einem „Bundesland“ der Europäischen Union geworden.

Und eine Föderalismusreform im „EU-Bundesland“ Deutschland erscheint in ganz anderem Licht. Zunächst einmal stehen viele Gesetzgebungskompetenzen gar nicht mehr zur Disposition der Reformer, ganz einfach weil sie auf die EU übergegangen sind. Dies gilt, um nur ein Beispiel zu nennen, für alle Gesetze, die den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen im europäischen Binnenmarkt regeln.

In vielen anderen Bereichen übt die EU ihre gesetzliche Zuständigkeit gemeinsam mit den Mitgliedstaaten aus. Deutschland setzt dabei EU-Recht in nationale Ausführungsgesetze um, etwa so, wie dies die Länder bei der Rahmengesetzgebung des Bundes tun. Mit anderen Worten: Das innerdeutsche Problem der vermischten Zuständigkeiten dupliziert sich im Verhältnis zwischen Bund und EU. Schlimmer noch, es vervielfacht sich, da der Bund bei der Umsetzung von EU-Rahmengesetzen seinerseits wieder die Länder beteiligen muss, soweit deren Kompetenzen berührt sind. Die Folge: Das „Bundesland“ Deutschland gilt in Europa als notorischer Spätzünder, wenn es zum Beispiel darum geht, wichtige europäische Umweltschutzregeln in nationales Recht zu übernehmen.

Der Bund will nun durch die Reform erreichen, für die Umsetzung von EU-Recht künftig weitgehend allein zuständig zu sein. Der Vorschlag von Justizministerin Brigitte Zypries ist gut, weil er Zeit, Geld sowie bürokratischen Aufwand sparen und damit die Handlungsfähigkeit Deutschlands in der Europäischen Union insgesamt spürbar verbessern würde.

Aus Ländersicht ist der Preis einer solchen Reform allerdings hoch. Wahrscheinlich ist er zu hoch, denn EU-Recht greift immer mehr auch auf Länderkompetenzen über. Erhielte der Bund die alleinige Zuständigkeit für alle Gesetze mit EU-Bezug, würde er praktisch zugleich Macht über alle Politikfelder gewinnen, die die Länder als ihr Hausgut betrachten – angefangen von der regionalen Wirtschaftsförderung bis hin zur Bildungs- und Kulturpolitik.

Da es so gut wie keine Aufgabenfelder mehr gibt, in denen Brüssel nicht mitregiert, läuft eine konsequent zu Ende gedachte Föderalismusreform auf die Schaffung eines deutschen Einheitsstaates hinaus. Im Sinne der Europatauglichkeit des „EU-Bundeslandes“ Deutschland wäre das wohl wünschenswert, den Länderinteressen läuft es naturgemäß entgegen. Wenn die Länder gleichwohl an ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen festhalten wollen, dann müssen sie sich besser als bisher auf die europäischen Rahmenbedingungen einstellen.

Zwar gibt es diesbezüglich gute Reformansätze. Beispielsweise schlagen die Länder eine Verfassungsänderung vor, die es ihnen erlauben würde, Hoheitsrechte zum Zweck der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf Nachbarstaaten zu übertragen. Dies wäre eine entscheidende Hilfestellung für eine ganze Reihe vielversprechender Euroregionen entlang von Deutschlands Grenzen.

Der Kern des Problems aber besteht darin, dass die Länder nicht nur je für sich, sondern als Gemeinschaft handlungsfähiger werden müssen. Sie müssen effektive und effiziente Entscheidungsverfahren entwickeln, um einerseits EU-Recht in Länderrecht umzusetzen, andererseits gemeinsame Länderpositionen gegenüber der EU zu vertreten. Um den föderalen Konsenszwang zu brechen, kann die EU durchaus als Vorbild dienen.

Wie schwer dies bislang fällt, zeigt ein Blick auf die deutsche Kultusministerkonferenz (KMK). Die KMK gilt als Ikone der Zusammenarbeit der Bundesländer. Aber sie gilt ebenso als der unbewegliche Supertanker des deutschen Föderalismus, ja mithin als Symbol für das eklatante Versagen der deutschen Bildungspolitik. Vor allem an Institutionen wie der KMK müsste daher eine auf Europatauglichkeit zielende Föderalismusreform ansetzen.

Faktisch ist Deutschland längst ein „Bundesland“ der Europäischen Union geworden

Denn die Schwerfälligkeit der KMK beruht hauptsächlich darauf, dass dort alle Beschlüsse einstimmig gefasst werden müssen. Die Verabschiedung nationaler Bildungsstandards etwa kann am Veto eines einzelnen Landes scheitern. Sei es das kleine Saarland oder das große Nordrhein-Westfalen, alle haben die gleiche Blockademacht.

Um den Konsenszwang in der KMK aufzubrechen, könnte Europa als Vorbild dienen. Im EU-Ministerrat, der ja auch eine Versammlung von Regierungsvertretern ist, gilt seit langer Zeit nicht mehr nur das Einstimmigkeitsprinzip. In bestimmten Angelegenheiten können Beschlüsse auch mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden. Warum sollte das Abrücken von der Einstimmigkeitsregel nicht auch in der KMK und anderen Institutionen der Länderzusammenarbeit denkbar sein?

Ein wenig Kreativität vorausgesetzt, könnten die Länder also durchaus mehr Europatauglichkeit gewinnen. Der Weg dahin führt jedoch nicht allein über mehr Abgrenzung und Konkurrenz zwischen den Bundesländern. Er führt auch und vor allem über die verbesserte Fähigkeit, als Ländergemeinschaft zu entscheiden und zu handeln. In dieser Hinsicht scheint die Reformdebatte freilich noch ziemlich am Anfang zu stehen.

CARSTEN SCHYMIK