Die leisen Chinesen

Wenn die Welt westlicher wird, der Westen aber an Macht verliert: Fareed Zakaria schreibt die außenpolitische Doktrin für das postamerikanische Zeitalter

VON ROBERT MISIK

Im staatlichen chinesischen Fernsehen lief vor eineinhalb Jahren eine zwölfteilige Dokumentation über den „Aufstieg großer Nationen“. Die Reporter waren um die Welt geflogen und hatten recherchiert, wie die das machten, die Briten, Portugiesen, Spanier, die Sowjets, die Japaner und vor allem die Amerikaner – was sie richtig, was sie falsch machten. „Die Hauptbotschaft der Serie lautet“, fasst Fareed Zakaria zusammen, „dass wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Nation zu Größe verhilft, Militarismus, imperiale Bestrebungen und Aggressionen dagegen in eine Sackgasse führen.“ Sehr pädagogisch wurde da den Chinesen gesagt, was groß macht: nationaler Zusammenhalt, wirtschaftlicher und technischer Erfolg, politische Stabilität, militärische Stärke, kulturelle Kreativität und Anziehungskraft. Die chinesische Führung ist heute sehr gut darin, aus der Geschichte zu lernen.

„Der Aufstieg der Anderen“ heißt das neue Buch von Fareed Zakaria, dem indischstämmigen Chefredakteur von Newsweek International und Kommentator des TV-Senders ABC. Zakaria ist einer der klügsten Köpfe des diplomatischen Establishments der USA und man darf sein Buch auch als Versuch lesen, eine außenpolitische Doktrin für die Obama-Ära zu schreiben – für eine Ära, in der die USA immer noch Hegemon sind, aber nicht mehr die alleinige Hypermacht. Noch lässt sich leichter definieren, welche Ära zu Ende geht, daher wählt Zakaria den Begriff des „postamerikanischen Zeitalters“. Andere haben die Hilfsvokabel der „Uni-Multipolarität“ gewählt, chinesische Geopolitiker sprechen von „vielen Mächten und einer Supermacht“.

Der kometenhafte Aufstieg Chinas und Indiens, aber auch die Fortschritte Brasiliens, Russlands und Mexikos sind zunächst ein wirtschaftliches Ereignis: der dramatischste Wohlstandsgewinn in der Geschichte. Und die rapideste Machtverschiebung. 2040 könnten die fünf fortgeschrittensten Schwellenländer eine größere Wirtschaftsleistung erbringen als die heutigen G-7-Länder. Gewiss machen die dramatischen Unwägbarkeiten der gegenwärtigen Finanzkrise Prognosen etwas sehr volatil. Aber die Prophezeiung wird nicht weniger realistisch, trifft doch die Kernschmelze an den Finanzmärkten im Augenblick jedenfalls Japan, die USA und Westeuropa stärker als China und Indien. Während in den alten Zentren die Wirtschaftsleistung schrumpft, wächst sie in den Aufstiegsstaaten bisher nur langsamer. Chinas gigantische Devisenreserven geben dem Land einen Spielraum, den andere Volkswirtschaften so nicht haben.

Aber Zakaria ist kein Ökonom, ihn interessiert eher die Mikrophysik der globalen Machtpolitik, die sich verändert. Ökonomisch sind die USA jetzt schon von China abhängig – China leiht den Amerikanern Geld, damit die auf Pump chinesische Produkte kaufen können. So in etwa funktioniert zurzeit die Weltwirtschaft. Freilich, man soll nicht übertreiben: Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen ist China noch ein Entwicklungsland, die USA bleiben die ökonomisch avancierteste Macht.

Aber schon jetzt gibt es spürbare Machtverschiebungen. Wenn früher ein Land in Schwierigkeiten war, musste es sich von den amerikanisch dominierten Institutionen wie Währungsfonds und Weltbank die Bedingungen für Kredite diktieren lassen. Heutzutage springt immer häufiger China ein – ohne große Bedingungen zu stellen.

Früher, schreibt Zakaria, hatte eine „aufstrebende Macht nur zwei Optionen: Entweder sie integriert sich in die westliche Ordnung, oder sie lehnt diese ab und wird zu einem Schurkenstaat“. Heute gibt es einen dritten Weg: „Sie schließen sich der westlichen Ordnung an, allerdings zu eigenen Bedingungen – und gestalten das System dadurch selbst um.“

Dabei verdankt sich der Aufstieg natürlich, und das ist nicht ohne Ironie, der Anziehungskraft US-amerikanischer Ideen und der Verbreitung westlicher Technologien. Die Welt wird „westlicher“, zugleich verliert „der Westen“ aber seine Dominanz. Wird das eine „Welt ohne Westen“, wie die Catchphrase schon lautet? Das ist alles viel komplizierter, so Zakaria.

Die USA als Supermacht herauszufordern, daran hat weder China und schon gar nicht Indien auf absehbare Zeit ein größeres Interesse. Im Gegenteil, China versuche seine Macht eher zu verstecken, als sie zu ostentativ zur Schau zu stellen. Die Strategie der vergangenen dreißig Jahre lautete: Konfliktvermeidung, weil alles dem Ziel des wirtschaftlichen Aufstiegs untergeordnet ist. Sogar das Wort „Aufstieg“ ist in der chinesischen Führung verpönt – aus Angst, es könnte die Amerikaner verschrecken. Die Taktik lautet: Mit Geschick und Beharrlichkeit wirtschaftlich stark werden – die Verschiebung der Machtgravitation folge dann, aufgrund der schieren Größe, schon von selbst. An dieser Strategie werde sich so schnell nichts ändern, so Zakaria. Wenn die USA klug sind, können sie auch in einer solchen „Uni-Multipolarität“ Führungsmacht bleiben, so lautet sein Resümee, und er führt als Gewährsmann für die richtige Strategie überraschenderweise Otto von Bismarck ein. Der wollte Deutschland vor hundertzwanzig Jahren zum Angelpunkt des internationalen Systems machen, indem er bessere Beziehungen zu den Großmächten pflegte als diese untereinander.

Für eine solche freundliche Hegemonie haben die USA die besten Voraussetzungen, ist Zakaria überzeugt: Die Nordamerikaner müssten nur lernen, mit den Augen der anderen zu sehen, und ihre Arroganz aufgeben, mit der sie sich selbst beschädigen. Denn China, Russland, Indien konkurrieren hart und pflegen solch historische Animositäten. Die USA könnten da der lachende Erste sein, wenn sie den Holzhammer einpacken und das Florett auspacken.

Fareed Zakaria: „Der Aufstieg der Anderen. Das postamerikanische Zeitalter“. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Siedler Verlag, München 2009, 304 Seiten, 22,95 Euro