Verpasste Fluchten

Nuran Calis‘ Debütdrama „Dog Eat Dog (Raus aus Baumheide)“ am Hamburger Thalia in der Gaußstraße

„Ich will mit dir an einen Ort, wo meine Geschichte niemanden interessiert, wo ich so sein kann, wie ich will“, sagt Serkan zu Pola. Die hat er an der Bushaltestelle getroffen, von wo sie in den Süden abhauen will. Schauspielerin werden. Er will mit ihr weg. Denn seine Geschichte ist Baumheide, die triste Plattenbausiedlung im Osten von Bielefeld. Und sie will sogar mit.

Nuran Calis‘ Debütdrama Dog Eat Dog (Raus aus Baumheide) war der Überraschungserfolg in der „Langen Nacht der Autoren“ bei den diesjährigen Autorentheatertagen am Thalia Theater. Jetzt folgte die Uraufführung in voller Länge. Und die zweite größere Regiearbeit von Jungregisseurin Annette Pullen am Thalia in der Gaußstraße nach Gregory Burkes Gagarin Way überzeugt durch engagierte Schauspieler, Tempo und Witz.

Mit grandioser Lässigkeit schlagen sich der bodenständige Serkan (Andreas Döhler) und sein Kumpel Tom (Josef Heynert) als Türsteher im Glashaus durch, dem HipHop-Club der Stadt. Beide kommen aus kaputten Verhältnissen, wo Hilflosigkeit statt liebevoller Erziehung dominiert. Tom trägt Plüsch statt Bomberjacke und ist megastolz auf ein Tattoo vom „Heiligen Geist“. Zarte Verweise auf seine anders gestrickte Sexualität, die sich heimlich auf seinen Kumpan Serkan richtet. Die scheue Clubbesucherin Lily (Xenia Snagowski) versucht derweil vergeblich, bei ihm zu landen. Ihre derb-prolettige Freundin Ziska (Anna Blomeier) hat das besser raus. Sie geht mit dem Dealer Viktor (Marko Gebbert) und schwenkt dann heimlich über zum smarten Marco (Jörg Kleemann). Derweil entwickelt Serkan schüchterne Gefühle für Pola. Noch nie sah man Susanne Wolff in schwarzem BH und Plastikkleid so asozial „Ey Alter“ fluchen.

Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie raus wollen. Raus aus Baumheide. Am Bühnenrand schreien sie ihre Träume hinaus. Ziska will einen Kosmetiksalon aufmachen, Lily will eigentlich einfach nur „zu zweit woanders“ sein. Und wenn Pola erklärt, warum sie vor Menschen spielen will „Ich will ihnen den Mut geben, Dinge zu verändern. Sie müssen es nur wollen. Es ist eigentlich ganz einfach“, ist da noch Hoffnung. Aber irgendwann ist der Bus abgefahren. Aus der Unfähigkeit, wirklich zu gehen erwächst die Lust, die anderen zu zerstören, und dies führt zu einem blutigen Showdown. Solch nachdenkliche, mit Komik durchwirkte Texte und Inszenierungen könnte es ruhig mehr geben. CAROLINE MANSFELD

Weitere Vorstellungen: 27. + 28. 10., 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße, Hamburg