Der Großstadtindianer

Die Schanze verändert sich: Mit steigenden Mieten kommen neue Bewohner. John – Trommler, Gärtner und Hartz-IV-Klient – ist hier zur Schule gegangen. Porträt eines Mannes, der bleiben will

VON UTE BRADE

Dienstagabend in der Schanze. Mädchen schieben sich kichernd in eine Cocktailbar in der Susannenstraße. Von drinnen dumpfe Musik. Aus dem Park hinter der Flora stapft ein Mann mit Trommel auf dem Rücken. Seine langen Haare hat er wie ein Indianer mit einem schwarzen Tuch zusammengebunden. John organisiert die Jamsession in der Flora: Schiebt ein paar Bänke zusammen, stellt Teelichter auf, um sieben geht’s los.

Noch ist keiner da. John dreht sich erst mal eine Kippe. Er quarzt nur selbst Gedrehte. Von seinem Tabakbeutel guckt ein Indianer. Mit denen scheint er’s zu haben. Johns Urgroßmutter war Indianerin, er nennt sich selbst „Großstadtindianer“. Vielleicht mehr Großstadt als Indianer: Er trägt Military-Hose, schwarzen Pulli, Winterjacke, hat Schatten um die Augen und Falten auf der Stirn.

Er ist hier aufgewachsen, sein Schulweg führte vom Schulterblatt zur Schanzenstraße. „Es gibt kein Haus, in dem ich nicht drin war!“. sagt John, „ich konnte zu jedem gehen, wenn ich mal ein Bier trinken wollte.“ Heute gibt es entweder das Haus nicht mehr oder ein neuer Mieter ist drin, mit dem John nicht unbedingt einen trinken würde. „Es hat sich verdammt viel verändert“, sagt John, während wir an Drogerien, Friseursalons und Boutiquen vorbeigehen.

Die Mieten in der Schanze steigen, Tante-Emma-Läden und Kneipen machen dicht, weil immer mehr Filialen großer Ketten hierher drängen: Budnikowski, American Apparell und bald auch McDonald’s. An jeder Ecke neue Klamottenläden, neue Bars. Wer in der Schanze bleiben will, muss Mieterhöhungen von bis zu 80 Euro pro Monat schlucken oder es droht eine fristlose Kündigung. „Die Stadt will die sozial Schwachen aus den Wohnungen raus haben“, sagt John.

Seit 2005 hat er eine eigene Wohnung, zurzeit lebt er von Hartz IV. Kommt damit gerade so rum. Mit 49 Jahren und ohne Führerschein findet er keinen Job. Früher hat er alles gemacht: Schlachter, Glas- und Gebäudereiniger, Postbote, Gerüstbauer, Zeitsoldat. Momentan ist er ehrenamtlich im Florapark als Gärtner tätig. Er schaut nach dem Rechten und hält alles in Schuss. Auf jeden Fall hat er Zeit zum Schnacken mit den Flora-Leuten, trinkt täglich einen Tee im Kulturzentrum Haus 73 und schnappt viel frische Luft.

Jetzt kommen die ersten Trommler kommen in die Flora: Afrikaner, Jamaikaner, Franzosen, Deutsche und eine japanische Touristin. Auch Johns Sohn, Marc-Nakia, 16, schaut vorbei. Erzählt nicht viel, ist ein bisschen schüchtern. „Kannst du mir zwei Euro geben, für Batterien?“, fragt Marc-Nakia. Er muss jetzt los, er ist erkältet und will früh schlafen. John greift in seine Hosentasche und findet ein paar Cent: „Nimm dir alles, was du brauchst.“ Lächelnd schaut er seinem Sohn nach und widmet sich wieder seiner Trommel.

Die Bude füllt sich. Viele schauen nur kurz rein, begrüßen Freunde und gehen weiter. Ein paar bleiben. Alle sitzen eng zusammen, denn es ist ziemlich kalt. Wer trommelt, friert nicht. Die andern klatschen, tanzen oder wippen mit dem Fuß. Einer hat ’ne Rassel dabei. John gibt den Takt vor. Vier schnelle Schläge mit den Fingern auf den Rand, einer mit der flachen Hand in die Mitte der Trommel.

Einer nach dem anderen steigt ein. Jetzt geht’s richtig los. Die Hände der sieben Trommler prasseln immer schneller auf ihre Djembes ein. Die Finger fliegen, die Trommler harmonieren. „Reine Übung“, erklärt mir mein Nachbar. Einige schließen die Augen, der ganze Körper wippt mit, John strahlt. Die Stimmung ist gut, John und seine Freunde reden englisch, deutsch, afrikanisch durcheinander, lachen. Der Sound in dem hohen Raum ist gut. Sieben Trommeln können ganz schön laut sein.

Schon als kleiner Junge liebte John Musik. Seine Eltern, Willi und Biggy Breuker, betrieben ab 1957 den Jazzclub „River-Kasematten“ am Ende des Fischmarkts, schräg gegenüber der St.-Pauli-Hafentreppe. Hier probten die Beatles und Tony Sheridan. Hier spielten Ella Fitzgerald, Louis Armstrong, Count Basie, Duke Ellington. „Die waren oft bei uns zu Hause“, erzählt John, der auf dem Schoß von Louis Armstrong saß.

Die Jazzkneipe musste nach 25 Jahren der Um- und Neugestaltung des Hafengeländes weichen. Trotz heftiger Proteste wurden die „Matten“ 1980 plattgewalzt. Zuvor waren sie 27-mal abgesoffen und jedes Mal wieder aufgebaut worden, einmal brannten sie aus. Versichert war Willi Breuker nicht. Das Geld, das Breuker in den River-Kasematten verdiente, hat er versoffen. Ständig fetzte er sich mit John. Irgendwann hat der Sohn den Kontakt zum Vater abgebrochen. Er weiß nicht, wo Willi Breuker beerdigt wurde. Vererbt hat ihm der einen schwarzen Montblanc-Kuli, in den der Name der Mutter eingraviert ist. Die ist an Krebs gestorben, als John 22 Jahre alt war.

Mittlerweile ist es Mitternacht und bitterkalt in der Flora. Aufbruchstimmung. Einige gehen ins „Dub Café“, die anderen auf ein Bier in Johns Zwei-Zimmer-Wohnung, nicht weit von der Flora. Bier und Brause bekommt man auf einer alten, völlig zerkratzten CD serviert. John dreht die Anlage auf – Reggae. Die Luft in dem kleinen Raum ist stickig und verraucht, das Fenster kaputt. Auch wenn es heil wäre, öffnen ist nicht drin, denn auf der schmalen Fensterbank stehen: Indianer aus Holz, Indianer aus Plastik, Muscheln, Kakteen, Teelichter, eine kleine Palme – und Indianer aus Glas.