Statt Hauptstadt leider nur Berlin

Die Eliten schämen sich für die hässliche, arme Hauptstadt. In einer gestern vorgestellten Studie knöpft sich die Deutsche Nationalstiftung Berlin vor. Und fordert: Endlich soll Kapitale werden, was bisher nur schnöder Regierungssitz ist

von ROBIN ALEXANDER

Eindeutig ist nur der Brockhaus: „Hauptstadt, meist die Stadt, in der Regierung und Parlament ihren Sitz haben, oft die größte Stadt eines Landes.“ Diese Kriterien, die das Nachschlagewerk und der gesunde Menschenverstand angeben, sind seit dem Regierungsumzug von 1999 erfüllt. Berlin ist Deutschlands Hauptstadt.

Ist es noch nicht, muss es vielmehr noch werden, meint Kurt Biedenkopf. Der ehemalige sächsische Ministerpräsident und CDU-Politiker stellte gestern gemeinsam mit Altbundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) und dem ostdeutschen Theologen und Politiker Richard Schröder (SPD) eine Studie vor: „Berlin – was ist uns die Hauptstadt wert?“ Finanziert wurde das Unternehmen von der Deutschen Nationalstiftung, die sich gestern auch auf ihrer Jahrestagung in Schloss Bellevue vor 250 geladenen Gästen mit diesem Thema beschäftigte. Die Nationalstiftung ist ein 1994 von Altbundeskanzler Helmut Schmidt gegründeter Verein, der sich der Förderung der Einheit Deutschlands verschrieben hat.

Warum will sie in den kommenden Jahren ihren Schwerpunkt auf Berlin verlagern? „Das Problem gewinnt seit Jahren an Dringlichkeit“, sagt Biedenkopf im höflichen, Schloss Bellevue angepassten Ton. Berlin, in dem Zustand, in dem es zurzeit ist, schade Deutschland, meint Biedenkopf, wenn er sagt: „Wenn ein Staat seine Hauptstadt verkommen lässt, wirkt sich das auch auf die Progression des Gesamtstaates aus.“

Die Studie versammelt 30 Beiträge von Autoren, die außer ihrer Prominenz wenig gemeinsam haben. Neben sieben ehemaligen oder amtierenden Regierenden Bürgermeistern ist der Historiker Heinrich August Winkler dabei, Wolfgang Schäuble, der Zeit-Herausgeber Michael Naumann, der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm und die Ostberliner Schriftstellerin Monika Maron. Sogar ein Kapitelchen aus Florian Illies’ „Generation Golf II“ ist in das Werk gerutscht.

Die so genannte Studie soll zu einer neuen Berlin-Debatte inspirieren, deren Richtung Biedenkopf, Schröder und Weizsäcker gestern vorzugeben versuchten. Einigkeit besteht dabei nur in wenigen Punkten. Der in Bonn verbliebene Rest an Ministerien solle schleunigst an die Spree umziehen, meint Biedenkopf, „das kostspielige Provisorium“ eines geteilten Regierungssitzes müsse aufgegeben werden. Einigkeit besteht zudem, dass Berlin „nicht nur Kapitale, sondern Repräsentanz des Gesamtstaates“ (Biedenkopf) werden solle. Das darf auch etwas kosten, so weit geht die Einigkeit in der Nationalstiftung noch.

Beim Konkreten gehen die Meinungen auseinander. Richard Schröder warf die Frage auf „Kann ein Bundesland Bundeshauptstadt sein?“ und beantwortete sie mit Nein. Im Rahmen des Länderfinanzausgleichs seien die anderen Länder nicht bereit, die Hauptstadt zu alimentieren. Schröder hofft, das Problem werde sich mit einer Fusion von Berlin und Brandenburg lösen. Anschließend sei Berlin nur noch Kommune und Hauptstadt. Dieser Linie folgen einige der politischen Beiträge in der Studie. Helmut Schmidt ist anderer Meinung. Der Altbundeskanzler hält die Länderehe für kontraproduktiv: „Eine Vereinigung von Berlin und Brandenburg könnte die finanzpolitischen Probleme nicht erleichtern, wohl aber eher noch komplizieren.“ Vielmehr komme eine Übernahme von städtischen Aufgaben durch den Bund in Betracht. Das wäre das Modell Washington D. C.

Klaus Wowereit ließ sofort Widerspruch ausrichten: „Die Fusion ist nach wie vor das Zukunftsprojekt für die Region.“ Berlin habe „keinen Grund, den Status eines voll berechtigten Mitglieds der Ländergemeinschaft aufzugeben“. Überhaupt Wowereit: Die Hauptstadtdebatte ist ein periodisch wiederkehrendes Ärgernis für den Regierenden. Schon im Wahlkampf hatte Gregor Gysi Wowereit mit der Idee einer Hauptstadtkommission unter Druck gesetzt. Als Wowereit später den Vorschlag zum Bundespräsidenten trug, ließ Rau ihn kalt abblitzen. Auch Wowereit hat einen Beitrag für die gestern vorgestellte Studie geschrieben, beehrte die Nationalstiftung aber nicht mit einem Besuch, da er zurzeit Mexiko bereist.

Anders als Wowereit, der Berlin bis auf seine Finanzprobleme ganz „dufte“ findet, hadern die Mitglieder der Nationalstiftung auch sonst mit der Stadt. Es fehle ein „in sich schlüssiger, gesamtdeutscher Auftrag“ (Biedenkopf). Berlin spüre noch zu wenig „die Hauptstadtfunktion“ (von Weizsäcker). Diese soll ein „Zentrum der Meinungsbildung“ sein, wie es Weizsäcker ausmalte. „Das Zentrum muss vorzeigbar sein, es darf im Ausland nicht heißen, in dieser Stadt leben 20 Prozent Sozialhilfeempfänger“, meinte Biedenkopf. Richard Schröder verglich Berlin gar mit einem ungepflegten Treppenhaus, wie er es in der DDR erlebt habe. Noch mal Biedenkopf: „Die Bevölkerung muss in Berlin leben können wie in München oder Hamburg.“