in fussballland
: CHRISTOPH BIERMANN als Telefonseelsorger

Trost im relativen Erfolg

Christoph Biermann, 42, liebt Fußball und schreibt darüber.

Günther und Ralf riefen im Abstand von nur zehn Minuten an und wollten sprechen. Einfach mal drüber reden, sich Luft machen, klagen und schimpfen. So, wie man das eben tut, wenn einen die Gefühle aus der Bahn werfen und man Gespräche mit Freunden braucht, um wieder einigermaßen Tritt zu finden. So, wie nach Unfällen, Trennungen und anderen Katastrophen, zu denen zweifelsohne auch diese gehörte. Günther und Ralf kennen sich nicht, sie verbindet aber ihre Anhänglichkeit zum SV Werder Bremen. Günther besucht seit Jahrzehnten mit großer Selbstverständlichkeit die Spiele im Weserstadion, obwohl er dazu eigens aus Köln anreisen muss; und Ralf freut sich, aus dem Süden Deutschlands endlich in den Norden zurückzukehren, weil er dann wieder regelmäßig seine Bremer sehen kann.

Wenige Minuten vor den Anrufen war bekannt geworden, dass der Brasilianer Ailton ihren Lieblingsklub verlassen würde. Zum Ende der Saison oder vielleicht schon früher wird der Torjäger zu Schalke wechseln. In Bremen lieben sie den Mann schlichten Gemütes mit dem kurzen Hals, weil er wirklich viele Tore schießt und hinreißende zudem. Ailton kann aber auch so schlecht spielen, dass man sich ihn dann nicht mal bei einem Verbandsligisten vorstellen kann, und so mögen sie ihn nur noch mehr, weil er unausrechenbar ist wie ein Kind.

Doch wie konnte er nur zu Schalke gehen, die im Moment viel schlechteren Fußball spielen als Werder? Wie konnte er gerade jetzt die beste Bremer Mannschaft seit Jahren verlassen, die man sich gar ernsthaft als deutschen Meister vorstellen könnte?

Günther und Ralf stöhnten diese Fragen ins Telefon, mal schwermütig, mal wütend – und wussten als Fußballkenner die Antwort doch längst. Weil Geld jedoch eine so schnöde Erklärung ist, jammerten und schimpften sie nur noch mehr, denn damit war der schöne Zauber der letzten Wochen dahin und ihr Spaß an der beglückend aufspielenden Mannschaft genommen.

Was konnte ich dazu sagen, wie Trost zusprechen und den verlorenen Zauber ersetzen? Wir redeten über den Darwinismus im Fußball, der dazu führt, dass die reicheren Schalker den nicht so reichen Bremern ihren besten Spieler wegholen konnten (und am Vortag schon ihren Verteidiger Mladen Krstajic verpflichteten). In der Nahrungskette steht Werder unter Schalke, und ich hätte sagen können, dass die Fans von Ailtons letztem Klub damals bestimmt nicht weniger unglücklich waren, als er nach Bremen wechselte.

Aber so viel Sachlichkeit wäre an diesem Tag nicht angebracht gewesen. Lieber erinnerte ich sie an das Verhältnis von Etat- und Bundesligatabelle. Ginge es im Fußball streng marktwirtschaftlich zu, müsste der ökonomisch stärkste Klub auch die Meisterschaft gewinnen. Das wäre der FC Bayern München – und meistens kommt es ja auch so. Aber eben nicht immer, so wie auch nicht stets der Klub mit dem kleinsten Etat an letzter Stelle landet. Da die Wirtschaftskraft in der Bundesliga inzwischen so ungleich verteilt ist, hat ein Klub wie Werder Bremen eigentlich keine Chance mehr auf den Titel. Der Trost liegt also nicht mehr im absoluten, sondern im relativen Erfolg.

Eigentlich müsste man daher neben der Punktetabelle immer eine Etattabelle abdrucken oder eine, in der die Differenz zwischen dem eingesetzten Geld und dem sportlichen Ergebnis angezeigt wird. Hat also Hertha BSC den vierthöchsten Etat und steht auf dem viertletzten Platz, wären sie bei minus elf und wahrscheinlich Tabellenletzter. Werder mit einem mittelgroßen Etat wäre als sportlicher Ranglistenerster in dieser Relativitätstabelle ziemlich weit vorne, aber Bochum und Freiburg vielleicht noch vor ihnen, weil sie mit kleinen Etats derzeit auf Platz sechs und sieben liegen.

Das sponnen wir ein wenig aus, und ich merkte, wie es Günther und Ralf zumindest ein wenig tröstete. Die Telefonseelsorge wirkte, und Günther sagte irgendwann mit fester Stimme, dass es doch immer weitergegangen sei. Dann fiel ihm ein, Meister sei Werder just in dem Jahr geworden, nachdem Rudi Völler zum AS Rom gewechselt war.