Die Märchenintrige

Bald schon ist Weihnachten. Die Zeit der schönen Geschichten, strahlenden Kinderaugen und klingenden Kassen. Im Waldautheater aber stellt man sich die ärgerliche Frage: Wer hat denn da von meinem Märchenverteiler genascht?

Weihnachtsmärchen sind Knochenarbeit. Ab Oktober stehen die SchauspielerInnen bis zu viermal täglich auf der Bühne – womit sie allerdings auch ein Gutteil des Jahreseinkommens ihrer Häuser erwirtschaften. „Jedes Jahr zur Weihnachtszeit eroberten 50.000 kleine Besucher das Waldautheater“, heißt es zum Beispiel in einem Serienbrief an Schulen und Kindertagesstätten. „In diesem Jahr sind wir ebenfalls für Sie da, aber die schwierigen Umstände, die Ihnen bekannt sind, zwingen uns an einen anderen Ort.“ Nämlich nach Verden, in die Stadthalle.

In Walle, wo das Waldau bekanntlich seinen Sitz hat, staunt man nicht schlecht über diese Werbeoffensive. Im Theater gibt es zahlreiche „völlig irritierte“ Anfragen, sagt Klaus Marth, der zusammen mit seiner Frau Susanne als neuer Betreiber der insolvent gegangenen Traditionsbühne antritt. Immer wieder habe er erklären müssen, dass es – mit „Schatzinsel“ und „Rumpelstilzchen“ – natürlich auch im Waldau selbst zwei Weihnachtsmärchen gäbe. Schließlich geht es um erwartete Einnahmen von rund 250.000 Euro.

Der Versuch, den dicken Fisch nach Verden zu ziehen, stammt von der „Pop, Corn & Events Ltd. – Künstleragentur“. Die wiederum gehört Thomas Blaeschke, bekannt als Chef der „Bremer Musical Company“ (BMC), die jüngst auf der Chorolympiade Triumphe feierte. In Verden bietet er nun, zusammen mit ehemaligen Waldau-Schauspielern, eine musikalisierte Fassung von Charles Dickens „Scrooge“-Figur an. Der entsprechende Serienbrief lässt die Produktion als lediglich ortsverlegte Fortsetzung der traditionell eifrig gebuchten Waldauweihnachtsmärchen erscheinen.

Zum großen Ärger von Klaus Marth. Der sieht seine ohnehin nicht einfachen Bedingungen für einen Neustart des Waldau erheblich verschlechtert: „Einerseits haben wir mit dem Gespenst der Insolvenz zu kämpfen, und jetzt haben uns die Blaeschke-Aktivitäten märchenmäßig fürchterlich zu schaffen gemacht“. Dabei geht es nicht nur um den Vorwurf des Etikettenschwindels: Die frühere Waldau-Verwaltungsleiterin sei nach der Insolvenz für Blaeschke tätig geworden – unter Mitnahme der Waldau-Adress-Dateien. In Walle selbst sei das hauseigene Material dafür nur noch eingeschränkt nutzbar. Ein weiterer „Piratenakt“: Bis vor kurzem führte die Internetadresse „www.waldautheater.de“ per Umsprung unmittelbar zur Homepage der BMC.

Dort sieht man die Sache naturgemäß anders. Und bestreitet insbesondere den vermeintlichen Adressenklau. Sprecherin Kerstin Tölle: „Die Schulanschriften stehen in jedem Telefonbuch.“ Und die Netzadresse? „Das war kein neuer Streich“, sagt Tölle. Die BMC habe sich die Waldau-Domaine schon „seit langem“ gesichert, schließlich habe man ja auch selbst Interesse gehabt, das Haus zu übernehmen.

In der Tat hat Blaeschke jahrelang und mit Erfolg sein Musical „Träume“ im Waldau gespielt, jetzt aber gegenüber den Marths bei der Übernahmebewerbung den Kürzeren gezogen. Trotzdem: Der Versuch, das Waldauweihmachtsmärchenpotenzial abzuschöpfen, sei „keineswegs ein Rachefeldzug“, betont Tölle. Im Hinblick auf den geplanten Eigenbetrieb habe man das Weihnachtsprogramm eben schon vorproduziert – „und nun haben wir Lust, es auch zu spielen.“

Bei der insolventen Waldau GmbH, deren Mieter die Marths sind, sieht man die Angelegenheit weniger spaßbetont. Um weitere konkurrierende „Waldau“-Aktivitäten zu unterbinden, hat die GmbH bereits eine einstweilige Verfügung gegen Blaeschke durchgesetzt, inklusive einer 500.000 Euro-Strafandrohung. Darüber hinaus erwägt man in der Kanzlei des Insolvenzverwalters eine Schadensersatzklage.

Henning Bleyl