Alle Wege führen nach Rom

Durch eine beispiellose Machtkonzentration auf den Vatikan in Rom hat Johannes Paul II. jegliche Modernisierung und Vielfalt im Keim erstickt

von PHILIPP GESSLER

Christoph Kardinal Schönborn aus Wien gilt manchen als „papabile“, als möglicher Nachfolger des jetzigen Papstes Johannes Paul II. – wenn auch nur mit geringen Chancen. Umso unangenehmer kam es da, als er kürzlich öffentlich aussprach, was man als Kardinal selbst unter Höllenfolter nicht sagen darf, aber jedem TV-Zuschauer offensichtlich ist: Karol Wojtyła, sagte der Kardinal, „nähert sich eindeutig den letzten Tagen, Monaten seines Lebens“.

So ist das Kirchentabu gebrochen, wonach man über den Tod eines Papstes nicht spricht, erst recht nicht öffentlich. Zeit also, Bilanz zu ziehen, zumal heute der Papst wohl ein vorletztes Mal die Augen der ganzen Welt auf sich ziehen wird, wenn er in Rom mit katholischem Prunk den 25. Jahrestag seiner Wahl feiert. Was hat der Mann aus Polen in dem Vierteljahrhundert erreicht, da er die Geschicke der Weltkirche leitet: für seine Kirche und andere Kirchen, für andere Religionen und die Welt insgesamt?

Rein numerisch betrachtet, fällt die Bilanz innerkirchlich positiv aus: Die Kirche wuchs unter Johannes Paul II. zu einer weltweiten Glaubensgemeinschaft von über einer Milliarde Menschen. Der Zuwachs liegt nicht daran, dass sie attraktiver geworden wäre. Sie profitierte vielmehr von ihrer Stärke im kinderreichen Süden des Globus.

Eiszeit zwischen Rom und Moskau

Immerhin: Wojtyła nutzte diesen demografischen Trend. Er hat von Anfang an bei Kardinalsernennungen und seinen 102 (!) Auslandsreisen auf die boomenden Kirchen des Südens gesetzt. In gewisser Weise schritt die Kirche Roms bei der Globalisierung voran, das heißt, sie wurde tatsächlich weltumspannend. Johannes Paul II. machte aus einer eurozentrischen Organisation eine wahre Weltkirche. Auch deshalb thematisierte er als einer der wenigen immer wieder die Armut des Südens. Hier lebt die Mehrheit seiner Schäfchen.

Doch mit dieser Globalisierung ging eine fast brutale und beispiellose Machtkonzentration auf die Regierungszentrale in Rom einher. Diese Zentralisierung schnürt Vielfalt schnell ab: Auch wegen neuer Kommunikationsmittel ist Rom nicht mehr weit. Neue Wege, etwa bei der Liturgie im Urwald bei Belém in Brasilien oder beim Ökumenischen Kirchentag in Berlin, können nicht mehr dank der Entfernung zum Vatikan längere Zeit unbeachtet erprobt werden. Sie werden in Sekunden an den Vatikan gemeldet – und dort in der Regel verurteilt.

Zwar gibt der Papst vor, die Fortschritte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965), initiiert von Johannes XXIII., zu verteidigen. De facto aber mühte er sich, fast alle Errungenschaften rückgängig zu machen. Johannes Paul II. erstickte die geistige Freiheit, die eine kurze Weile in der Kirche wehte. Wer, wie die (Befreiungs-)Theologen Lateinamerikas oder Hans Küng, theologisch heiße Wege ging, gar gegen Rom aufmuckte, wurde mundtot gemacht.

Johannes Paul II. hat sich innerkirchlich als Reaktionär profiliert: Er berief, um nur wenige Beispiele zu nennen, fast nur Konservative zu Bischöfen, erließ einen Treueeid auf den Papst für jeden Priester und versuchte, jede Diskussion über das Zwangszölibat zu unterbinden.

Vielleicht am schlimmsten aber war, dass er die Hälfte der Mitglieder seiner Kirche offenbar für geistlich minderwertig hielt. Wie sonst ist es zu erklären, dass er in einer Enzyklika mit nur schwachen theologischen Argumenten versuchte, Frauen generell und für alle Zeiten von der Priesterschaft auszuschließen? Warum er trotzdem für die Gottesmutter Maria schwärmt, mögen Psychologen erklären. Wojtyła schwebt, trotz einigermaßen fortschrittlicher Schuldeingeständnisse, etwa im Fall Galileo, insgesamt als Leitbild eine Kirche des 19. Jahrhundert vor.

Ähnlich negativ ist seine Bilanz in Bezug auf die anderen Kirchen: Zwar war unter seiner Ägide mit den protestantischen Kirchen ein theologischer Durchbruch über die seit Jahrhunderten umstrittene Rechtfertigungslehre möglich – in der Frage also, ob allein die Gnade Gottes den Menschen erlöst und nicht dessen gute Taten, wie Luthers These war. Wenig später aber brüskierte er die gleichen protestantischen Kirchen nachhaltig mit dem Schreiben „dominus iesus“, wonach sie eigentlich gar keine Kirchen seien. Auch in der Frage des Abendmahls mit anderen Christen blätterte er im Gegensatz zu fast allen ernst zu nehmenden Theologen den Kalender auf vorgestern zurück: Ein gemeinsames Brechen des Brotes ist demnach praktisch ausgeschlossen. Um die Ost-Kirchen bemühte er sich verbal, doch die Ausbreitung des Katholizismus seit 1989 auf dem Gebiet der Orthodoxie förderte er auch. Eiszeit herrscht seitdem zwischen Rom und Moskau.

In seiner Politik gegenüber den anderen Religionen folgte Wojtyła noch am ehesten der Tradition des Vatikanums: Er besuchte als erster Papst (nach Petrus) eine Synagoge, beeindruckte mit seiner denkwürdigen Reise nach Israel und nannte die Juden „unsere älteren Brüder“ – alles Zeichen gegen die uralte Judenfeindlichkeit der Christenheit. Auch die Friedensgebete in Assisi zeugten von einem Respekt vor anderen Religionen, die angesichts eines drohenden „clash of civilizations“ vorbildlich ist. Hier gab es unter ihm klare Fortschritte.

Weltfremd, herzlos, gestrig

Bleibt schließlich die Frage, was sein Pontifikat der außerreligiösen Welt gebracht hat. Kaum umstritten ist, dass vor allem seine Polenreisen in den 80ern Entscheidendes zum Fall des real existierenden Sozialismus beigetragen haben. Wojtyła ist aufgrund seiner Vita Kommunistenfresser. Dass er zugleich der wohl letzte große Kapitalismuskritiker ist und Globalisierungsskeptiker ihn häufig bewundern, spricht für ihn. Hier und im (meist erfolglosen) Einsatz für den Frieden liegen Verdienste – seine Aussagen zur Sexualität, zu Aids, zur Homosexualität, zur Überbevölkerung und zu Abtreibungen dagegen waren meist völlig weltfremd, herzlos und gestrig. Sie haben viel zu vielen geschadet.

Wo er Macht hatte, zeigte er sich meist reaktionär. Wo er progressiv war, blieb sein Wort oft ohne Wirkung. So ist seine Bilanz ziemlich negativ. Aber das hängt von der Perspektive ab – wie anders bei einem so streitbaren Mann.

Wojtyła hat sein Haus noch nicht bestellt, er hat wohl auch nicht mehr die Kraft dazu. Sein Nachfolger wird sich daranmachen müssen, seine Kirche ähnlich wie Johannes XXIII. wieder zu reformieren, sie erneut der Welt zu öffnen. Dabei hat Johannes Paul II. durch die Ernennung fast auschließlich konservativer Kardinäle vorgesorgt, dass ein reformorientierter Purpurträger kaum die nächste Wahl in der Sixtinischen Kapelle als Papst verlässt. Die Folgen seines Pontifikats für Kirche und Welt sind noch kaum absehbar.