Die Diskussion beginnt von vorn

Beim heutigen EU-Gipfel werden die Institutionen der Union, die der Konvent stärkte, wieder geschwächt. Die Quittung dafür kommt mit der Europawahl

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Im Gipfelzentrum in Brüssel lag gestern der Verfassungsentwurf des Konvents nur noch auf Dänisch und Schwedisch aus, die größeren Sprachen waren vergriffen. „Macht nix“, kommentierte ein Journalist lakonisch. „Das Ding wandert sowieso ins Altpapier.“ Auch dem italienischen Botschafter gelang es nicht, kurz vor Tagungsbeginn ein wenig Gipfel-Euphorie zu verbreiten. Nur ein kleiner Teil der Konventsarbeit sei in Frage gestellt, versuchte Umberto Vattani die Kritiker zu besänftigen. Überzeugen konnte er damit niemanden.

Schon nach der zweiten Sitzung der Außenminister Anfang der Woche in Luxemburg gab Parlamentsbeobachter Klaus Hänsch eine vernichtende Beurteilung ab: „Im Konvent wurde argumentiert. In der Regierungskonferenz wird betoniert.“ Dabei hatte vor vier Wochen alles ganz optimistisch begonnen. Die italienische Ratspräsidentschaft verteilte einen strikten Arbeitsplan für die zehn Treffen der Regierungskonferenz. Ein letzter Schliff für das vom Konvent vorgelegte Ergebnis, eine Möglichkeit zur Diskussion über einige strittige Punkte – mehr war nicht vorgesehen.

Schon nach dem ersten Treffen Anfang Oktober in Rom war der italienische Arbeitsplan obsolet. Zwar lief bei den Chefs am Vormittag noch alles halbwegs nach Plan. Sie einigten sich darauf, das in fünfzehnmonatiger Kleinarbeit mühsam ausgehandelte Konventsergebnis als Arbeitsgrundlage zu akzeptieren. Doch schon am Nachmittag, im Kreis der Außenminister, wurde klar, was „Arbeitsgrundlage“ bedeutet: den Startschuss, um alle Diskussionen noch einmal zu führen.

Schon an diesem Nachmittag in Rom wurde eine der wichtigsten Neuerungen im Konventstext vom Tisch gewischt: der Legislativrat. Er hätte öffentlich tagen und den Gesetzgebungsprozess auf EU-Ebene nachvollziehbar machen sollen. „Es war Konsens im Konvent, dass wir damit ein Spiegelbild des parlamentarischen Gesetzgebers auf Ratsebene schaffen und einen Rahmen vorgeben“, erklärte Inigo Mendez de Vigo, der für die konservative Fraktion des Europaparlaments als Beobachter in der Regierungskonferenz sitzt.

Sein Mitstreiter aus der sozialistischen Fraktion, Klaus Hänsch, neigt als abgeklärter Elder Statesman, der schon bei vielen Regierungskonferenzen erlebt hat, wie historische Chancen aus nationalem Egoismus vergeben werden, zu Pragmatimus. Vergangenen Montag in Luxemburg, wo auf Drängen der Polen und Spanier die eigentlich für Ende Oktober eingeplanten Machtfragen vorrangig debattiert wurden, riss auch ihm der Geduldsfaden. „Der Großteil der Teilnehmer hat offenbar nichts begriffen“, wetterte Hänsch. „Was im Konvent als ausbalanciertes Gesamtkonzept erarbeitet worden ist, ersetzen die Außenminister durch kleinteiligen Pragmatismus.“ Gespenstisch sei gewesen, wie sich am Montag alle an der Frage festgebissen hätten, welchen Titel der künftige europäische Außenminister tragen solle. „Mit geradezu archaischer Naivität wurde diese Debatte geführt.“ Einige hätten vorgeschlagen, den jetzt für Javier Solana geltenden Titel „Hoher Repräsentant für Außen- und Sicherheitspolitik“ auch künftig beizubehalten.

Mendez de Vigo machte ebenfalls seinem Ärger Luft: „Für diejenigen, die beim Konvent dabei waren, ist es zum Haareraufen. Jeder Außenminister liest seine vorbereitete Erklärung runter. Es wird nicht diskutiert, nicht reagiert, und es gibt keinen einzigen neuen Impuls.“ Hänsch bezeichnete es als erschreckend, dass ein Teil der Teilnehmer den Konventsentwurf gar nicht genau zu kennen scheine. Viele Regierungen hätten den Konvent offenbar als Spielwiese betrachtet, dessen Ergebnis – obwohl von allen Regierungen mit unterschrieben – nicht ernst genommen werde.

Heute Vormittag beim Gipfeltreffen in Brüssel wird das Gefeilsche auf Chefebene weitergehen. Die ursprünglich für diesen Tag erstellte Liste von Sachfragen wurde lapidar durch den Tagesordnungspunkt „Institutionen“ ersetzt. Mit Ausnahme der Gründungsmitglieder der Gemeinschaft Belgien, Niederlande und Luxemburg werden alle kleinen Staaten noch einmal betonen, dass sie auf einem Kommissar mit Stimmrecht bestehen. Sie werden wieder fordern, dass der Vorsitz im Rat auch in Zukunft oft wechseln muss, damit jeder mal drankommt.

Deutschland und Frankreich werden dann vermutlich daran erinnern, dass das Prinzip „Ein Land, ein Kommissar“ schon in Nizza über Bord geworfen wurde. Der dort ausgehandelte und jetzt geltende Vertrag sieht vor, dass es ab 2007, wenn die EU 27 Mitglieder hat, weniger Kommissare als Mitgliedstaaten geben wird. Sollten die neuen Mitgliedsländer hinter diesen kleinsten gemeinsamen Nenner zurückfallen wollen, werden auch Deutschland und Frankreich die Sache überdenken – und zum Status quo von zwei Kommissaren für die großen Länder zurückkehren wollen.

Wenn es der italienischen Präsidentschaft Ende November beim dreitägigen Konklave in Rom nicht gelingt, die Regierungen zur Vernunft zu bringen, ist die Chance vertan. Dann wird der neue Vertrag noch komplizierter, noch undemokratischer, noch bürgerferner. Bei den Europawahlen im Juni werden sie dafür die Quittung bekommen.