All that Jazz

Richtige Geschichten haben keinen Anfang, keine Mitte, kein Ende: Patrick Neates komplex ambitionierter Roman „Twelve Bar Blues“

VON FRANK SCHÄFER

Patrick Neates Roman „Twelve Bar Blues“ verzurrt gleich vier Handlungsstränge auf drei Zeitebenen, die sich immer mal wieder kreuzen, gegenseitig unterbrechen und allesamt miteinander in Beziehung stehen. Schwer fällt es da, bei diesem fast schon streberhaft ambitionierten und komplexen Roman, wenigstens eine Handlungsskizze zu entwerfen, trotzdem versuchen wir es. Alles beginnt 1790 in Afrika. Ein begnadeter Sänger liebt die Häuptlingstochter, und sie liebt ihn, aber der befreundete Medizinmann, wie von Sinnen vor Eifersucht, missbraucht seine magischen Kräfte und zaubert ihn in die Hände von Sklavenhändler. Er wird nach Amerika verschleppt, und seine Häuptlingstochter geht ins Wasser.

Anfang des 20. Jahrhunderts, die zweite Zeitebene, bläst Lick Holden, ein Nachfahre jenes unglücklichen afrikanischen Meistersängers, das gottverdammt heißeste Kornett vor Louis Armstrong, weil er den Blues hat, weil er arm ist und die Lebensbedingungen für Schwarze auch ein paar Jahrzehnte nach Abschaffung der Sklaverei noch bedrückend genug sind. Lick liebt Sylvie, das fast weißhäutige Mischlingsmädchen, das in seiner Familie groß wird, aber nicht blutsverwandt mit ihm ist. Aber sie geht weg und verdingt sich, ein klassisches Berufsbild für weibliche „Viertelneger“ in jenen Jahren, als Mätresse für einen weißen Großgrundbesitzer. Lick sucht sie jahrelang, in New Orleans und anderswo, findet sie schließlich. Die Wiederbegegnung auf einem der „Quateronenbälle“, auf dem sich die wohlhabenden Weißen ihre hellhäutigen schwarzen Mätressen aussuchen, gehört zu den besten Kapiteln des Buches. Lick, der ahnungslos als Ersatzmann für den Kornettisten der Hausband eingesprungen ist, dämmert es langsam, worauf er sich hier eingelassen hat. Er schämt sich, bei dieser Erniedrigung seiner Leute mitzumachen, ihn packt die Wut und zugleich die Eifersucht, denn er sieht seine Liebe in den Armen eines Weißen. Danach folgt eine musikalische Initiation: „Wäre Lick ein Faustkämpfer gewesen, er wäre auf die Tanzfläche gesprungen wie in einen Ring, hätte den jungen weißen Kerl zu Boden geschlagen und seine Schwester umarmt. Aber Lick war nun mal ein reinblütiger Musiker. So spielte er von einem Augenblick auf den anderen den heißesten Jazz, den ein Weißer je gehört hatte, ein Sound, der sich über Harry Absoloms Orchester hinaushob wie ein Adler über Afrika … Einer nach dem anderen hörten seine Kollegen zu spielen auf und starrten Lick mit offenem Mund an … Lick spielte, bis er seine Musik sehen konnte, bis er seine Musik als stolzer Schwarzer vor sich sehen konnte, der von den Höhen eines Hügels auf die Weißen heruntersah. Lick spielte zum ersten Mal mit vier Teilen seines Körpers: seinem Kopf, der an Freude und Traurigkeit dachte, seinen Lippen, die von Zorn und Mitgefühl sprachen, seinem Herzen, das vor Liebe und Hass nur so donnerte, und mit seinem Geschlecht, das ihm schmerzte vor Lust und Abscheu zugleich. Lick blies, bis den vier Winden die Puste ausging.“

Das überzeugt Sylvie. Die beiden werden ein Paar und versuchen durchzubrennen. Aber ein weißer Gentleman hat gelernt, um seinen Besitz zu kämpfen. Mit einigen Schlägern lauert er Lick auf und prügelt ihn tot.

Im Jahre 1998, und das ist die dritte Zeitebene, sucht Licks Enkelin Sylvia, eine Sängerin und Ex-Hure, nach ihrer Geschichte. Ebenjener gerade beschriebenen! Jim, der weiße Junge mit dem großen Herzen, hilft ihr, und Musa, der Medizinmann, ein Nachfahre jenes bösen Zauberers von einst, träumt von ihr und von der vergangenen Schuld, die in der Gegenwart beglichen werden muss. Die drei treffen aufeinander, Sylvia bekommt ihre Familiengeschichte nachgereicht, und Musa sorgt dafür, dass dieses Mal das wiederkehrende Tragödien-Schema durchbrochen wird und Sylvia den richtigen Mann bekommt – nämlich Jim!

Wie gesagt: Das war jetzt wirklich nur eine sehr rudimentäre Handlungsskizze dieses absolut ingeniös durchkomponierten Romans, noch dazu eine brav chronologisch angeordnete. Patrick Neate dagegen ordnet die Chronologie dem zwölftaktigen Blues-Schema unter und schwingt sich infolgedessen ganz effektvoll von einem Handlungsstrang zum nächsten. Nur gelegentlich mal ist das etwas kompliziert, aber dann scheut er sich auch nicht, die unübersichtlichen Familienverhältnisse noch ein zweites und drittes Mal durchzukauen. Denn, so erklärt Licks Sohn aus unglücklicher erster Ehe den drei Ahnenforschern Sylvia, Jim und Musa: „Geschichten haben keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende. Das ist reine Einbildung und saublöd obendrein. So was bringt man den Kindern in der Schule bei, weil sie da zu faul sind oder zu dumm oder beides, den Kindern zu sagen, wie’s wirklich ist.“ Schließlich sind sie nur ein Ausschnitt aus dem Kontinuum Leben, das vorher da war und danach noch sein wird.

Neate hält, wie ein guter Jazzer, so ziemlich die Mitte zwischen künstlicher, struktureller Geschlossenheit und improvisatorischer Willkür, die sich vor allem in den vielen Anekdoten äußert, die er seinen Protagonisten in den Mund legt. Sein feines Gehör für die gesprochene Sprache, sein Gespür für das richtige Set, für authentisches Kolorit und Atmosphäre und nicht zuletzt die hervorragende Recherche verleihen seinen Bildern eine Farbigkeit und Strahlkraft, dass man manchmal geneigt ist zu glauben, diesen Lick Holden habe es tatsächlich gegeben – und von ihm habe Louis Armstrong erst gezeigt bekommen, was ein wirklich heißes Blech ist. Es ist diese Wahrheit der Fiktion, die das Buch so brillant macht! Neates kompositorisches Kalkül kann man bewundern, mitgerissen wird man, wenn er die Tinte einfach laufen lässt.

Patrick Neate: „Twelve Bar Blues“. Aus dem Englischen von B. Schmid. Rogner & Bernhard bei 2001, Hamburg 2004. 455 S., 18 Euro