Scharfe Alltagsbeobachtung

In seinem Heiner-Müller-Abend am Deutschen Theater „Germania. Stücke“ versucht Dimiter Gotscheff die Texte des Autors möglichst nüchtern auf die Bühne zu bringen. Ganz en passant kitzelt er dabei deren trockenen Humor heraus

Der Mann im grauen Anzug, der am Ende des Abends die Bühne betritt, hat das Leiden an Deutschland längst aufgegeben. Zwar klingt, was ihm zu diesem schrecklich schönen Land einfällt, noch immer ziemlich martialisch. Doch der Schauspieler Christian Grashof bleibt völlig unbeeindruckt von der unverwechselbaren Mischung aus mythischem Pathos und scharfer Alltagsbeobachtung, die Heiner Müllers Texten einst fast kultische Verehrung eingebracht hat. Lakonisch blickt er auf die neue Zeit, in die er nach dem Mauerfall geschleudert worden ist. Über dem Europa-Center dreht sich der Mercedes-Stern immer noch „über Zahngold und Filialen der Deutschen Bank“. Fast ist man gerührt, was für abgründige Assoziationen der brave Westberliner Bau bei Müller einst provozierte. Doch den Schauspieler Grashof kann nichts mehr erschüttern. Nicht einmal Müllers verzweifelter Versuch, gegen den kollektiven Gedächtnisverlust anzuschreiben, der aus seiner Sicht mit dem Ende der DDR verbunden war. Grashof präsentiert Müllers ein Jahr vor seinem Tod entstandenen Abgesang „Ajax zum Beispiel“ emotionslos nüchtern und sorgt damit vielleicht gerade deshalb für einen der stärksten Momente von Dimiter Gotscheffs Heiner-Müller-Abend „Germania. Stücke“ am Deutschen Theater.

Denn dies desillusionierte Ende ist eigentlich der Anfang, weil Gottscheff aus dieser Perspektive, sozusagen rückwirkend, seine Heiner-Müller-Erkundung durch Stücke aus drei Jahrzehnten unternimmt. Die Bühne (Jens Kilian) besteht aus einer kargen Holzschräge mit neun Holzstühlen. Aus der Dunkelheit, die das hell ausgeleuchtete Plateau umgibt, steigen die Figuren wie Gespenster aus dem Gestern herauf. Sowjetische und deutsche Soldaten, Kommunisten, Preußens Friedrich oder Nazigrößen kurz vor ihrem Untergang. Da sind deutsche Wehrmachtssoldaten, die in der russischen Kälte einen Kameraden essen. Oder ein preußischer Irrenarzt, der seinen Patienten quält. Und wir sehen Friedrich den Großen (Margit Bendokat), der virtuos dämlich Preußens blühende Landschaften bestaunt. Ausstatter Jens Kilian hat die Männer in dezent altmodische Anzüge gesteckt, die Frauen in einfache Kleider ohne Anklang an irgendeine Geschichte. Manchmal werden die Szenen von Musikern begleitet, die mit einem Saxofon, einer Trompete oder einem E-Cello apokalyptische Töne produzieren. Einmal gefriert in den Schauspielergesichtern dabei ein Schrei. Gotscheff lässt Müllers Texte fast rezitieren. Im Reflex der minimalistischen Mittel seiner Inszenierung tönen die deutsche Geschichte und das Erschrecken darüber nur noch wie ein fernes Echo nach. Manchmal hört sich der Müller-typische Sound aus Terror und Sentiment schon kitschverdächtig an. Manchmal allerdings kitzelt Gotscheff auch den Aberwitz und Müllers trockenen Humor aus ihnen heraus.

Lohnenswert ist besonders ein Ausflug in den Führerbunker, der ja momentan wieder in aller Munde ist. Müller hat Hitlers Ende schon vor fast dreißig Jahren in seinem Stück „ Germania.Tod in Berlin“ beschworen. Gotscheff macht aus Müllers überladenem apokalyptischen Szenario eine hinreißend absurde Szene. Neun Schauspieler haben sich zum Gruppenbild mit Stühlen versammelt. In der Mitte nölt Goebbels seinen Führer an, weil der ihn als Propagandaminister in Verlegenheit gebracht hat. Denn während Goebbels ihn dem deutschen Volk als Vegetarier verkaufen muss, hat der gute Hitler gerade einen deutschen Soldaten gefressen. Im deutschen Theater wird die Szene mit konzertanter Leichtigkeit serviert und man lernt plötzlich einen ganz neuen Heiner Müller kennen. ESTHER SLEVOGT

Weitere Vorstellungen 30. 9., 3. 10., 19.30 Uhr