Musik kommt von oben

Tim Renner war Chef der deutschen Abteilung von Universal Music. Seine Geschichte und die der Musikindustrie erzählt er in seinem neuen Buch als Vertreibung aus dem Paradies. Eine Würdigung

Renner schlich sich als Praktikant ein, um die „Machenschaften“ der Polydor aufzudecken

VON HANS NIESWANDT

Aus der guten alten Zeit, aus den Jahren 97/98, als wir nämlich etwa eineinhalb Sommer lang wirklich echte Popstars waren, habe ich noch eine plattenfirmeninterne Notiz vehement in Erinnerung, die damals zur Kenntnisnahme an mich weitergeleitet wurde. Eine uns völlig unbekannte Controllerin forderte darin unsere A&R-Managerin auf, uns in Zukunft besser an die Kandare zu nehmen, und überhaupt sollten sich die disziplinlosen Freaks von Whirlpool Productions mal gefälligst ein Beispiel an der Gruppe Hanson nehmen. Diese käsige Teenie-Sippe, eine Kreuzung aus Partridge und Kelly Family, sei wirklich professionell und erledige alle ihnen auferlegten Verpflichtungen umstands- und klaglos. Wenn wir also die Absicht hätten, noch mal etwas aus unserer Karriere machen zu wollen, dann bitte so wie die minderjährigen Spießer aus den USA.

Was haben wir uns empört. Was haben wir vor Wut geheult. Aber auch: Was haben wir gelacht! So ein Statement ist wie ein Adelsschlag für renitente Diven und neurotische Genies, für echte Künstlerfritzen eben. Danach waren wir nur noch bockiger und etwas später zwar ganz draußen, aber bereit zu neuen Taten.

Es waren die letzten Tage im „Paradies“, wie Tim Renner die goldene Ära der Tonträgerindustrie nennt, die lange Spanne von den Zwanzigerjahren bis zum Ende der Neunziger. Der „Sündenfall“ zeigte sich aber bereits in der Präsenz eben jener unsensiblen Frau, die aus entlegenen Konzernsegment herbeigeschafft worden war, um nun die Effektivitätskriterien zur Vermarktung von, sagen wir, Hausgeräten auf Pop anzuwenden.

Bald darauf, im jetzigen Jahrtausend, folgte die „Vertreibung aus dem Paradies“ – und dort verharrt die Branche, kontinuierlich zerbröselnd. Im Aufbau von Renners Buch folgt entsprechend nach vorn verweisend „Das Neue Testament“ und schließlich und natürlich: „Die Wiederauferstehung“. Das mag in der Anmutung dick, weich, pathetisch oder gar ketzerisch erscheinen, aber es zeigt, dass Renner etwas Wesentliches weiß: Musik ist heilig. Musik ist Manna. Musik kommt von ganz oben. Wer das ignoriert, dem entfleuchen die Schäfchen und somit die Kundschaft.

Renner war zum Zeitpunkt des Sündenfalls ein hoher Kleriker: Chef von Motor Music und damit auch unser Boss. Ich kannte ihn aber schon länger: Beim lange verblichenen Hamburger Stadtmagazin Tango waren wir Ende der Achtzigerjahre beide Autoren. Noch ein paar Jahre früher hatte ich ihn bereits als Schreiber bei der kurzlebigen Spex-Konkurrenz Scritti wahrgenommen und sogar schon davor, ganz zu Beginn der Achtziger, war mir sein Kassetten-Fanzine Festival der guten Taten aufgefallen. Uns verbindet derselbe Jahrgang und eine ähnliche musikalische Sozialisation: Punk und Pop und alles andere, aus der Perspektive aktionistischer Gymnasiasten mit Mitteilungsbedürfnis. Die Bedeutung des Buchtitels musste ich nicht erst hinten im Buch nachschlagen: Ich besitze die gleichnamige Single der Hamburger Band Palais Schaumburg selbst.

Eigentlich ist Renner also ein alter Pop-Schreiber, und das merkt man diesem Buch im positiven Sinne auch an: Es macht Spaß, weil er das wirklich gern erzählen und vermitteln möchte. Sowohl die Story als auch die Moral. Denn zunächst hatte es ihn nur kurzfristig als eine Art investigativen Reporter im Deckmantel des Praktikanten zur Polydor getrieben. Was ein Bericht über gewisse mögliche „Machenschaften“ im Körper des Molochs Musikbusiness werden sollte, geriet stattdessen zur persönlichen Großkarriere.

Motor Music wurde unter seiner Leitung das deutsche Vorzeige-Label der Neunzigerjahre, mit Acts wie Westbam, Rammstein, Element of Crime usw. Als das Mutterhaus Polygram mit Universal verschmolz, setzte man ihn dort direkt in den Chefsessel. Während von ominösen Machenschaften nicht wirklich viel zu sehen war, außer dass plötzlich dicke Aktienpakete verteilt wurden, braute sich jedoch bereits eine ungleich gigantischere Geschichte zusammen, die eigentliche Story: der fast vollständige Zusammenbruch der Musikindustrie, wie wir sie kannten.

„Wir“ ist in diesem Fall tatsächlich die Generation der jetzt 40-Jährigen, die laut diesjährigen Statistiken erstmals seit der Erfindung des Teenagers mehr Geld für Musik ausgibt als ebenjener. Die in England so genannten Freitags-Fünfzigpfünder, die nach der Arbeit, vor dem Wochenende bei HMV diesen Betrag für drei CDs, zwei DVDs und ein Buch ausgeben, sind die letzte Stütze des Systems Plattenhandel. Das gehört zu ihrer Identität, ihrem Selbstverständnis als Kulturwesen, zum Mosaik ihres Lebens. Diese Leute wollen Geld für Musik ausgeben, sie lieben es sogar. Ihnen liegt fern, ihre Reliquien gratis haben zu wollen. Man muss nur wirklich daran glauben können. Renner als Mitglied dieser Generation musste im Verlauf der letzten zehn Jahre mit ansehen und mit verwalten, wie die einstmals so stolze Musikindustrie, die vier Generationen einvernehmlich versorgt, aber auch gemolken hatte, sich teils systematisch, teils planlos selbst zugrunde richtete.

Bevor er dies detailliert aufdröselt, erzählt Renner aber so amüsant wie kenntnisreich die Geschichte dieser Branche nach: von ihren wackligen Anfängen in der Garage der Gebrüder Berliner, über den Triumph der Scheibe gegenüber der Walze, den Sieg des Vinyl über das Schellack, warum die CD 72 Minuten lang ist und nicht nur 60. Man erkennt schnell, dass die Geschichte der Musikindustrie immer schon eine der kalten Fusionen, der unfreundlichen Übernahmen, der durchgeboxten Hardware-Interessen war. Renner wirft ihr vor, immer schon eine Getriebene gewesen zu sein, anstatt eine, die selbst vorantreibt.

Diese Qualität gesteht er höchstens den großen Charismatikern zu, als da z. B. wären: Ahmed Ertegun von Atlantic, Chris Blackwell von Island Records, Richard Branson mit Virgin oder Alfred Hilsbergs ZickZack. Musikbegeisterte Macher mit einer guten Ausgewogenheit von Geschäftssinn und Verantwortungsgefühl. Man wird direkt sentimental. Den strukturellen Schlamassel, in dem die Branche nun schon seit scheinbar Ewigkeiten dümpelt, schiebt er nur bedingt den bösen Brennbuben und Piraten in die Schuhe. Der Großteil des Desasters ist hausgemacht: emotionale Entwertung in den eigenen Etagen, aber auch den Funkhäusern und Medienanstalten. Das Diktat der Quote, völlig kontraproduktiv. Programmgestaltung durch mutlose Mehrheitsentscheidungen. Das absurd unproportionale Stimmgewicht jener mediokren Menschen, die bei Meinungsumfragen und Media Control mitmachen.

Parallel: die Vernachlässigung von Opinion Leadern, von heißen Jungs, von hochbegabten Nerds, von coolen Socken. Der Zweitverwertungsterror („Bravo Hits 26“) und dann auch noch die Typen von der Boston Consulting Group – Shareholding is killing music! Als Plattenfirmen nicht mehr analog zur relativen Unwägbarkeit ihrer Künstler das Geschäftsjahr zur Planungsgrundlage nehmen durften, sondern im Sinne der Anleger aufs Quartal umstellten – da wurde das ganze System so langsam zu seelenlosem Schrott, der niemandem mehr Spaß machte. Und dann muss man wirklich keine Musik mehr verkaufen. Und schon gar nicht kaufen.

Renner analysiert das alles aus der glaubhaften Perspektive des echten Insiders. Eine gewisse Selbstironie hier und da mildert den Eindruck eines selbst ernannten Heiligen – auch bei Motor unter seiner Ägide verkaufte sich so mancher Blödian bombastisch, sagen wir „Children“ von Robert Miles. Dennoch kann man ihm seinen hanseatischen Pfeffersack-Idealismus abnehmen. Auch er wird mit Musik weiterhin Handel treiben, erfolgreich sein oder auf dem Bauch landen.

Denn unter welchen Bedingungen ein Produkt langfristig und nachhaltig attraktiv bleibt, kann im Bereich Musik nur selten objektiven Kriterien genügen. Dazu braucht man Mut, Visionen und Glauben. Man kann es auch mit geballter Medienmacht versuchen wie die großen privaten TV-Sender, die heute in vieler Hinsicht schon die Aufgaben von Labels übernommen haben: Talent-Akquise, Aufbau und Marketing. Da aber die Mehrheit der Menschen Musik nicht wegen Mehrheitsentscheidungen mag, sondern weil sie wirklich etwas fühlen wollen, erreichen diese Praktiken letztlich auch nur einen Bruchteil des Potenzials. Keiner der großen deutschen Sänger von Lindenberg über Grönemeyer bis zu Campino hätte bei „Deutschland sucht den Superstar“ auch nur die Vorrunde überstanden, so Renner.

Echte Menschen mit Herz und Verstand wollen letztlich echte Künstler. Und Künstler brauchen Komplizen, so Renners Credo. Früher mögen es Tonträgerfirmen gewesen sein, die Musik in Einheiten wie Brötchen verkauft haben. Jetzt ist es Zeit für neuartige Modelle aus dem Bereich „Ganzheitliches Management“.

Renner sieht und beschreibt die Chance, die die Zerschlagung oder Auflösung eines überlebten Systems mit sich bringen kann. Schließlich ist es ganz und gar nicht bewiesen, das die bisherige Musikindustrie das beste war, was der Musik und den Musikern passieren konnte.

Renner sieht die Zukunft in kleinen Einheiten mit hoher Identifikationskraft, beispielhaft etwa an der Organisation, die die Toten Hosen um sich gebaut haben, oder ein Label wie Four Music. In günstigen Downloads ohne idiotischen Kopierschutz. Fair Trade sozusagen, für die Kids im Taschengeldformat, für die Eltern im luxuriösen Schuber. Denn es lässt sich zwar gewiss weitaus weniger Geld mit Musik verdienen als einst. Dafür ist es auch viel billiger geworden, Musik zu produzieren und zu vertreiben. Wenn man also nicht an der Vergangenheit klebt, wartet möglicherweise eine sonnige Zukunft in Freiheit und Selbstbestimmung auf die Menschen, die sich ernsthaft um Musik kümmern. Seien sie Künstler, deren Komplizen oder deren Kunden.

Tim Renner: „Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!“ Campus Verlag, 220 Seite, 19,90 €