Eine anfällige Gesellschaft

Trotz Beslan bleibt Russlands Präsident Putin dabei: Tschetschenien hat nichts mit dem Terror zu tun, die Drahtzieher sitzen im Ausland. Handeln wird bestenfalls imitiert

… aber das ist nicht Ergebnis freier Entscheidungen, sondern Resultat von Zwängen

Im Kreml liegen die Nerven blank. Seit Beslan kämpft die politische Elite Russlands an unzähligen Fronten – doch bisher fehlt ein Schlachtplan. Auf die Frage, wo der Feind sitzt und wie man ihn bekämpfen kann, gab Wladimir Putin nach dem Geiseldrama keine befriedigende Antwort. Tschetschenien fehlte in seiner Rede an die Nation. Den Krieg im Kaukasus ersetzte der Kremlchef durch die Bedrohung des Internationalen Terrorismus und „jener Kräfte, die hinter ihm stehen“. Die nach wie vor sowjetisch geprägte Bevölkerung verstand den Hinweis: Putin meinte die Amerikaner und den Westen. Der wahre Feind war benannt, da der Oberkommandierende der unbesiegbaren Streitkräfte keine Fehler machen kann.

Russland erweist sich immer wieder als empfänglich für Verschwörungstheorien. Wo Verschwörer am Werk sind, muss die Gesellschaft ungeachtet aller Gegensätze Geschlossenheit zeigen. Das setzt auch moralische Kriterien außer Kraft. Letzte Woche etwa versuchte eine Begnadigungskommission, den wegen Mordes an einer Tschetschenin zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilten Armeekommandeur Juri Budanow auf freien Fuß zu setzen. Nur die Zustimmung des Präsidenten fehlte noch. Das Ausmaß des absehbaren Kollateralschadens bewog den Kreml in letzter Minute, der Ungeheuerlichkeit Einhalt zu gebieten.

Trotzdem: Beslan hat Russland verändert. Die Gesellschaft hat sich erneut geschlossen. Sie duldet weder Fragen noch eine skrupellose Analyse des Geschehens. Wer dennoch fragt, macht sich zum Komplizen der Verschwörer – wie der niederländische Premierminister, der Moskau um Auskunft gebeten hatte, wie es zu dem Blutbad kommen konnte. Eine solche Frage sei lästerlich, meinte daraufhin Außenminister Sergei Lawrow. Auch den britischen Botschafter ereilte der Groll des Kreml: Englands Regierung sollte erklären, warum Achmed Sakajew, Emissär des verjagten tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow, und der vor Putin geflohene Oligarch Beresowski sich auf BBC ausführlich zur Geiselnahme und den russischen Antiterrormaßnahmen äußern durften. Um zu Hause nicht in Ungnade zu fallen, musste sich der Außenminister international der Lächerlichkeit preisgeben.

Russland hat keine Tradition, Konflikte im Dialog beizulegen und nach Kompromissen zu suchen. Politische Entscheidungen werden zwar im Konsens getroffen. Dieser Konsens ist aber nicht Ergebnis freier Willensentscheidung, sondern Resultat von Zwängen oder Sanktionen. Die politische Kultur hat ihren Ursprung in der Organisationsform der bäuerlichen Gemeinde, für die jeder Konflikt zwangsläufig auf Kampf und Spaltung hinausläuft. Unterschiedliche Meinungen duldet dieses Verständnis nur als ein vorübergehendes Phänomen, das unbedingt überwunden werden muss. Dem entspricht ein vormoderner religiöser Glaube, der nur eine Wahrheit zulässt. Vorstellungen von Ganzheitlichkeit und Geschlossenheit beherrschen das Denken und Fühlen.

Das macht auch vor der Politik nicht Halt. Russland kehrt heute, nach einem kurzen Experiment in den Neunzigerjahren, Politik zu säkularisieren, zur Tradition zurück. Die Deklamation des Absoluten hat das Suchen nach dem, was möglich und machbar ist, wieder verdrängt. Daher hat Russland kein Instrumentarium entwickelt, mit dem sich Konflikte bewältigen ließen.

Die Sowjetunion kannte nur zwei Strategien: entweder den Feind zu vernichten oder den Konflikt zu leugnen. Nach Beslan bedient sich der Kreml einer Kombination aus beiden Lösungswegen: Er leugnet, dass die Lage in Tschetschenien dem Terrorismus ständig neue Kräfte zuführt, und droht gleichzeitig, Präventivschläge gegen Terrornester im Ausland zu führen. Der verängstigten Gesellschaft soll dies ein Gefühl von Sicherheit zurückgeben und das Vertrauen in den Staat wieder stärken.

Vergessen wird: Nach der Geiselnahme im Nord-Ost-Theater im Oktober 2002 drohte Moskau bereits mit denselben Maßnahmen. Die heutige Glaubwürdigkeitskrise des Kreml ist aber schwerwiegender, was einen Militärschlag, etwa gegen Georgien, wahrscheinlicher werden lässt. Nur: Angesichts der Schwäche des russischen Militärs würde dies eher einen neuen Kriegsschauplatz eröffnen als Terroristen ausschalten.

Auch die Entscheidung, das Wahlrecht zu ändern und Gouverneure vom Kreml aus zu ernennen, statt von der Bevölkerung wählen zu lassen, beseitigt Russlands Probleme nicht. Was sollte die Wahl von Gouverneuren mit Terrorbekämpfung zu tun haben? Beslan hat doch gezeigt, dass vom Kreml eingesetzte loyale Republikchefs den Problemen nicht gewachsen sind. Das liegt auch dran, dass sie im Volk über keine Autorität verfügen. Der Kreml strafft zwar die „Machtvertikale“ – aber der Effekt wird sich darauf beschränken, Kritik vom Zentrum fern zu halten. Die unter der Ägide Putins in alle Schaltstellen vorgerückten Sicherheitskräfte werden dafür sorgen. Nur stärkt dies weder das Herrschaftssystem auf Dauer, noch löst es Russlands Schwierigkeiten. Der Kreml schottet sich lediglich ab, entfernt sich von der eigenen Gesellschaft und verliert den Bezug zur Realität.

In Russland werden politische Entscheidungen traditionell im Konsens getroffen …

Vor hundert Jahren ging so die Monarchie unter, vor zwei Jahrzehnten das Politbüro des ZK der KPdSU. Da der Prozess der Aushöhlung des sozialen Konsenses nicht rechtzeitig erkannt wird, ist die politische Führung unfähig, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Deshalb erweist sich die politische Kultur Moskaus als besonders anfällig für abrupte Zusammenbrüche. Denn auch der Konsens innerhalb der Elite beruht auf Zwang. Nach Ankündigung der Wahlrechtsänderung traten dutzende Gouverneure der Kremlpartei „Vereintes Russland“ bei. Nicht etwa aus Überzeugung, sondern weil sie wissen, dass die politische Karriere sonst beendet ist. Dies ist die Keimzelle für Revanche.

Der Schulterschluss zwischen Bürokratie und der Kremlführung stellt jedoch lediglich ein Zweckbündnis auf Zeit dar. Sobald der Bürokratie Zweifel kommen, dass die Führung ihre korporatistischen Interessen nicht mehr garantieren kann, wird sie sich ihrer entledigen. System und Mechanismus der personalisierten Kultur werden davon nicht berührt. Man wechselt die Führungsfigur aus und benennt gelegentlich das Amt um: vom Zaren über den Generalsekretär zum Präsidenten.

Fährt der Kreml fort, entschiedenes Handeln nur zu imitieren, wird der Terror eher noch zunehmen. Die Konsequenzen sind abzusehen: Angst und ein Gefühl nationaler Erniedrigung dürften weite Teile der russischen Bevölkerung erfassen. Am Ende könnte ein enttäuschter Souverän, assistiert von einer unzufriedenen Bürokratie, den Kremlchef zum Rücktritt zwingen. Nur kehrt Russland danach nicht auf den Weg der Demokratie zurück. Nationalismus, Populismus und Gewalt werden über Jahre die Politik Moskaus bestimmen. Es ist fraglich, ob Russland dies in seiner heutigen staatlichen und territorialen Verfasstheit unbeschadet überstehen könnte.KLAUS-HELGE DONATH