berliner szenenGrau, grau, grau …

... sind alle meine Farben

Ganz offensichtlich ist jetzt Herbst, die Farben fliegen. Schritt-Schritt laufe ich die Friedrichstraße hoch, die Augen geschlossen, die Nase zur Sonne. Super Sommergefühl, es kitzelt warm auf der Haut. Dann Trillerpfeifen im Ohr, schrill, laut, Schreck, Augen schnell auf und plötzlich ist alles anders.

Die Farben sind weg. Verschwunden. An der Ecke zu den Linden bewegt sich ein Meer ausgebleichter Jacken, graurot, graublau, graugrün, graubeige, graugrau. Getragen werden sie von älteren Menschen. Rentnerdemo, erklärt ein Polizist, dessen Grün auch nicht mehr ganz frisch ist. „Die laufen zum Alex. Demonstrieren gegen die Rentenkürzung“. Ah ja, da war was in den Nachrichten. Die ganzen Linden sind voller Menschen, hört gar nicht auf. Kein Anfang, kein Ende in Sicht. Nur Menschen in grauer Kleidung, die Gesichter, das muss man leider auch sagen, vom Farbton eher grau als golden, dazu überflüssigerweise Schilder mit der Aufschrift: „Die Grauen“. Früher die „Grauen Panther“-Partei, gegründet von der schrillen Senioren-Legende Trude Unruh, inzwischen verkürzt auf „Die Grauen“. In der Unterzeile irritierend: „Jung, dynamisch, frech und mutig“. Alte Frauen haben Trillerpfeifen im Mund, Rentner skandieren: „Dieses Land haben wir aufgebaut.“

Schnellschritt-Schnellschritt lässt sich der Zug leicht überholen, am Palast der Republik wieder freie Sicht. Die Frau an der Imbissbude kämpft mit den Currywürsten. Endlich wieder Farbe, die Pommes leuchten Gold. Der Protestzug ist ins Stocken geraten, ein letzter Blick. Graurot ist Rot, Graublau Blau, Graugrün Grün. Die Sonne bricht sich im orangen Glas des Palasts der Republik und spiegelt auf die Graujacken. Die Farben spielen, es ist Herbst. HENNING KOBER