Die Einsamkeit der Kandidatin

AUS MÜNSTER KIRSTEN KÜPPERS

Carola Möllemann-Appelhoff steht mit einem Strauß gelber Rosen am Rande der Fußgängerzone im Regen. Der Wind weht die Frisur davon, die flachen Schuhe werden nass. Hinten beim FDP-Stand halten die anderen vom Ortsverein Schirme über die Broschüren. Und dass die Band auf ihren Synthesizern jetzt „Griechischer Wein“ spielt, macht es nicht besser: Die Leute auf den Straßen von Münster rennen vorbei, sie wollen keine Musik und keine Rosen, es regnet, sie hasten mit ihren Einkaufstüten zu den Autos und fahren davon. Carola Möllemann-Appelhoff bleibt stehen. Sie hält das jetzt aus.

Seit etwas über einem Jahr ist ihr Mann tot. Selbst gute Freunde glauben mittlerweile an Selbstmord. Carola Möllemann-Appelhoff hat sich nach der Beerdigung zurückgezogen. Beileidsbriefe aus der Berliner FDP-Zentrale schickte sie ungeöffnet zurück. Sie hörte auf, am Gymnasium zu unterrichten. Sie blieb zu Hause in ihrem Backsteinbungalow in Münster-Gievenbeck.

Berühmtheit ohne Chance

Jetzt kommt ein neuer Herbst und Carola Möllemann-Appelhoff ist wieder da. Sie will Oberbürgermeisterin von Münster werden. Sie hat es sich überlegt. Sie war beim Friseur, die Haare sind kürzer, mit hellen Strähnchen. Im Sommer hat sie drei Wochen Urlaub gemacht am Tegernsee. Nun ist Samstag, und der FDP-Ortsverein hat neben dem Eiscafé einen Stand aufgebaut und eine Oldie-Band engagiert. Die Fraktionskollegen sind froh, dass sie Carola Möllemann-Appelhoff überreden konnten. Sie ist so etwas wie ein Star für die FDP-Münster.

Eine Berühmtheit, die dennoch keine großen Chancen hat. 1999, als Carola Möllemann-Appelhoff das letzte Mal als Oberbürgermeisterkandidatin angetreten war, hat sie 1,9 Prozent der Stimmen gewonnen. Der regierende CDU-Oberbürgermeister ist sehr beliebt. 61 Prozent wird er diesmal bekommen, sagen Umfragen. Die Leute auf der Straße antworten: „Der Bürgermeister, – das ist ein Guter!“

Carola Möllemann-Appelhoff wartet neben einer dröhnenden Lautsprecherbox und versucht es trotzdem. Warum? Ihr Lächeln ist still und schwebt über der Musik. Sie hat sich ein paar Sätze zurechtgelegt: „Wir wollen die absolute Mehrheit der CDU knacken.“ Oder „Die Sicherung von Arbeitsplätzen bringt Geld in die Staatskasse.“ Oder „Für den gezielten Ausbau der qualifizierten Ganztagsbetreuung müssen wir zusätzliches Geld bereitstellen.“

Auch über die geplante Tiefgarage spricht Carola Möllemann-Appelhoff. Vielleicht kann eine neue Tiefgarage einem helfen zu vergessen. Denn über das Große, was gewesen ist, schweigt Carola Möllemann-Appelhoff. „Mein Mann und ich haben unser Privatleben immer privat gehalten“, antwortet sie schneidend, wenn doch einer fragt. „Das soll auch so bleiben.“.

Es muss schlimm sein, alles erinnert sie daran: die Fußgängerzone, die rustikale Gemütlichkeit der Kneipen, das Herrenbekleidungsgeschäft. Jürgen Möllemann war ein bekannter Mann in Münster. Die Leute sprachen ihn beim Einkauf an. Möllemann war ein Bundespolitiker, „aber er hat sich nicht verdrückt“, meint einer der alten Kollegen der Münster-FDP. Die Möllemanns saßen abends beim Bier im „Ratskeller“, sie gingen zu Karnevalsveranstaltungen und Schützenfesten. Zu seinem „Liberalen Club“, lud Jürgen Möllemann Prominente wie Michail Gorbatschow oder Hans-Dietrich Genscher ein. 1991 holte er den Weltwirtschaftsgipfel in die Stadt. Die Leute mochten ihn dafür.

Ein Dachdecker als Schutz

Auch als Möllemann ein israelkritisches Flugblatt druckte und verteilte und sogar später noch als bekannt wurde, dass er diese Blätter illegal mit eigenem Geld bezahlt hatte, hielten ihm viele hier die Treue. Das Kondolenzbuch, das im Rathaus ausgelegt wurde, war nach vier Tagen voll. „Der Name Möllemann hier ist nie kaputt geredet worden“, sagt Hans Varnagen. Varnagen ist 59 Jahre alt, Dachdeckermeister und ein alter Freund der Möllemanns, er sitzt für die FDP im Stadtrat und fungiert gern als Schutzwand, wenn es um Frau Möllemann-Appelhoff geht.

Carola Möllemann-Appelhoff ist immer anders gewesen als ihr Mann. Statt mit spektakulären Aktivitäten, überzeugt sie durch Kompetenz. Sie recherchiert genau, sagen die Kollegen, liest jede Vorlage. Fehler verzeihe sie sich nicht. Carola Mölleman-Appelhoff, erzählt Hans Varnhagen, habe hinterher einmal zu ihm gesagt: „Wenn ich gewusst hätte, dass es diese Flyer geben sollte, dann hätte ich alles getan, ihn davon abzuhalten.“ Varnhagen glaubt, es sei für Möllemann schwieriger gewesen, seiner Frau zu erklären, dass er die Flyer selbst bezahlt hatte, als der Öffentlichkeit.

Carola Möllemann-Appelhoff trippelt vor ihrem Stand auf und ab. Der Regen hat aufgehört. Es holen sich jetzt mehr Leute Rosen ab. Varnhagen sitzt mit gebeugtem Rücken im Eiscafé und beobachtet sie durch das Fenster. Wie sie lacht und redet und winkt. „Es geht ihr so gut wie lange nicht mehr“, brummt Varnhagen. Er zündet sich eine Zigarette an, rührt im Cappuccino. Er ist ein bisschen nervös. Er weiß, dass es jetzt gut laufen muss.

Die FDP hat sie wieder

Sie haben sie rausgeholt aus dem Bungalow in Gievenbeck. Sie haben sie aufgestellt, sie haben Plakate gedruckt. Weil der Name Möllemann immer noch nach etwas klingt in Münster. Carola Möllemann-Appelhoff hat ein Strahlen im Gesicht. „Aber wie es drinnen aussieht, weiß keiner“, sagt Varnhagen. Er hat mit ihr telefoniert an jenem Donnerstag als das Haus von Kriminalbeamten durchsucht wurde, er war am anderen Ende der Telefonleitung als ein Polizist Carola Möllemann-Appelhoff plötzlich ausrichtete, ihr Mann sei tot. Varnhagen ist noch im Arbeitshemd und Cordhose in seinen Geländewagen gestiegen und losgefahren. Er hat Carola Möllemann-Appelhoff an den Absperrungen und Journalisten vorbei in sein Auto geladen und ist zum Flugplatz nach Marl gerast.

Es ging Jürgen Möllemann schlecht in den Monaten vor seinem Tod. Hans Varnhagen winkt ab: „Es war nicht in Ordnung wie man mit ihm umsprang.“ Von „Mutmaßungen“, spricht er, von „Vorverurteilung“ und „Dingen aus Berlin, die mussten nicht sein“. Die 1,5 Millionen Euro Schulden, die die FDP nach Möllemanns Flugblattaktion für Wirtschaftsprüfer und als Strafe an die Bundestagsverwaltung zahlen musste, erwähnt Varnhagen nicht.

Die zornige Todesanzeige

Auch nicht, dass die Staatsanwaltschaft inzwischen Hinweise hat, Möllemann könnte auch in die Leuna-Affäre verstrickt gewesen sein. Nach seinem Austritt aus der FDP im März vergangenen Jahres blieb Jürgen Möllemann keine Beschäftigung. Er nahm Tabletten. Hans Varnhagen glaubt, der Fallschirmsprung war eine „Kurzschlussreaktion“. Die Todesanzeige, die Carola Möllemann-Appelhoff aufgegeben hat, zeigt nach Berlin: „Werden uns diejenigen Rechenschaft geben, die auf niederträchtige Weise versucht haben, sowohl den Menschen Jürgen W. Möllemann wie auch sein politisches Lebenswerk zu zerstören?“ Es ist das erste Mal, dass sie sich in die Bundespolitik einmischt.

Danach hielt sie still. Einmal ist Carola Möllemann-Appelhoff noch in das Ferienhaus nach Gran Canaria geflogen. Ein Umzug in den Süden ist nun keine Option mehr. Sie hat wieder begonnen zu unterrichten. Wenn man Carola Möllemann-Appelhoff fragt, warum sie sich dazu entschlossen hat, schaltet sie ihr Lächeln ab: „Den Prozess werde ich nicht öffentlich machen. Aber meine Töchter mussten damit einverstanden sein.“ Carola Möllemann-Appelhoff nerven die Fragen. Sie will raus aus der Vergangenheit. Sie will in die Zukunft. Hans Varnhagen formuliert es so: „The show must go on!“

„Ihr seid euch ja nah!“

Ihr Gesicht ist jetzt in der ganzen Stadt plakatiert, es gibt Termine: Frühschoppen, Brunnenfest, Vorstellung der Spitzenkandidatin. Die FDP-Kollegen bemühen sich, Carola Möllemann-Appelhoff wie eine kostbare Vase durch den Wahlkampf zu bugsieren. Mindestens 5 Prozent soll der Name Möllemann bringen. Das Publikum ist nett. Es erkundigt sich nach der Tiefgarage, nicht nach Leuna. Überhaupt, – es ist ein ruhiger Wahlkampf, selbst die Konkurrenten sagen nur Gutes. „Carola Möllemann-Appelhoff ist eine sehr sachkundige Lokalpolitikerin“, findet der CDU-Oberbürgermeister. „Ihr hohes Ansehen hat sie sich völlig selbstständig erarbeitet. Ohne ihren Mann“, erklärt der SPD-Kandidat.

Aber manchmal passiert es doch – so wie jetzt bei der Frau mit dem Kinderwagen. Sie stellt sich vor Carola Möllemann-Appelhoff, die gerade an ihrem Stand sitzt und laut erklärt, wie sie die absolute Mehrheit der CDU in Münster brechen will. Die Frau unterbricht: „Alles Gute, Frau Möllemann! Ich kannte den Jürgen. Und ihr seid euch ja nah!“ Carola Möllemann-Appelhoff sagt nichts. Sie macht nur den Mund schmal, weil die Tränen kommen, und guckt weg.