Heimkehr ins fremde Land

Im Sommer 1989 kommt der Student Liebwein nach dem Urlaub in Kasachstan zurück in die DDR. Und nichts ist mehr wie zuvor

VON NICK REIMER

„Die Personaldokumente, bitte.“ Liebwein glaubte sich verhört zu haben. Die Grenzorgane des Arbeiter-und-Bauern-Staates baten ihn. Irgendetwas stimmte nicht.

Es war Ende Sommer 1989. Liebwein, ein 24-jähriger Student, fuhr im Zug von Prag nach Dresden. Normalerweise war der immer rammelvoll. Diesmal aber quollen nur die Züge aus der Gegenrichtung über. Beim Rauchen auf dem Gang fragte Liebwein, so beiläufig es eben ging: Was ist denn los? Der Befragte musterte ihn mit dem Misstrauen, das man mutmaßlichen Spitzeln entgegenbringt: Mensch, wo kommt denn ihr her?

Sie kamen aus Kasachstan. Reisefreiheit war für Liebwein nie ein Thema. Er nahm sie sich einfach. Im asiatischen Teil der Sowjetunion – so das Kalkül – wusste niemand, wie ein amtliches DDR-Visum auszusehen hat. Also bastelten sich Liebwein und seine Freunde selbst welche. Usbekistan, Kirgisien oder Tadschikistan – man kam so ganz schön rum. Probleme gab es allenfalls bei der Heimkehr. Wo man denn so lange gewesen sei, bellten dann die sozialistischen Grenzorgane.

Diesmal gab es keine Debatten. Diesmal sagten sie „Bitte“. Und die Kunde, die zu Liebwein drang war abenteuerlich. „Honecker schwer krank“, „Grüne Grenze in Ungarn offen“, „Montagsdemonstrationen“.

Dass nichts mehr so sein würde wie zuvor, merkte er, als er seine Wohnung betrag. Zwar lag wie verabredet der Schlüssel im Briefkasten. Die Pflanzen aber waren vertrocknet. „Sorry wegen deines Gartens – aber so eine Gelegenheit kommt nie wieder“, stand auf der Postkarte, die Tage später kam. Aus Wien.

In der Wohnung über ihm – kein Getrampel mehr. Seine Lieblingsbuchhändlerin, die ihm Böll oder Remarque zurücklegte, nicht mehr da. Annika, die beste Freundin, verschwunden. Die Fußballmannschaft ohne Torwart. Gespräche begannen jetzt immer mit dem Abgleich, wer noch da ist. Manchmal war der Gesprächspartner zwei Tage später selbst verschwunden. Liebwein hatte ein Problem.

Die Bewohner des Landes mit der „Weltanschauung des wissenschaftlichen Kommunismus“ sind geübte Idealisten. Sie sehen ihre Umwelt nicht so, wie sie wirklich ist, sondern nehmen die schönen Ideale für die Wirklichkeit. Zumindest ihre Mehrheit. Liebwein, zurück aus Alma Ata, beschlich eine Ahnung, wie nahe er dieser Mehrheit schon gewesen war. Die anderen gingen jetzt. Und mit jedem Menschen, der das Land verließ, wurde die Mehrheit mächtiger. Soll auch ich gehen? Oder bin ich irgendwann „DDR“ – Der Doofe Rest?

Er musste dringend darüber reden. Zum Beispiel mit Katharina. Bleib, beschwor ihn die Diakonin. Hier ist dein Platz, wir müssen Leben hier neu organisieren. Liebwein war nicht der Einzige, der reden musste. Drei Tage später redete ein gutes Dutzend. Nicht übers Weggehen. Sondern übers Bleiben. Woran es krankt. Was sich ändern müsste. Es ging um pathologische Fehler des Bildungssystems, ruinöse Günstlingswirtschaft und psychischen Druck. Chancen? Keine. Liebwein begann vorsorglich den Rucksack zu packen.

Doch dann meldete der Deutschlandfunk die Gründung des Neuen Forums. Für den Kreis um Katharina stand sofort fest: Da machen wir mit. Unklar war, wie. Denn natürlich konnte man nicht schlicht schreiben, „Liebe Bärbel Bohley, wir sind Eure Gruppe hier. Erbitten Anweisung. Adresse. Unterschrift“. So einfach wollte man es der Stasi doch nicht machen. Sie wählten schließlich einen Kurier.

Tobias war weg, von Ines seit einer Woche kein Lebenszeichen. „Über 20.000 Ehemalige wollen zurück“, bellte die Agitationsmaschine. Das Neue Deutschland druckte ein Interview mit einem angeblichen Hartmut Ferworm, der erklärte, mit einer Mentholzigarette betäubt in die Fänge kaltblütiger, berufsmäßiger Menschenhändler des Klassenfeindes geraten und aus seiner sozialistischen Heimat verschleppt worden zu sein.

Auch ihr Kurier wurde verschleppt. Nach Rummelsburg. Mal abgesehen davon, dass ihn 31 Stunden Stasi-Knast sichtlich mitgenommen hatten – das Neue Forum blieb ein Phantom. Liebwein kaufte eine Fahrkarte nach Prag.

Doch dann sendete die Tagesschau am 25. September Bilder von der Montagsdemonstration in Leipzig. 8.000 Menschen, sagte der Sprecher. Wir sind das Volk! Wir bleiben hier.

Da stand für Liebwein fest: Du gehst. Am nächsten Montag. Nach Leipzig.