Karriere eines Allzweck-Klassikers

Revolutions-Fanfare, Schlachtlied, Triumphgesang und Trostspender nach 1945: Beethovens Neunte Symphonie hat eine erstaunliche Rezeptionsgeschichte. Diese untersucht Pierre-Henry Salfati in dem Dokumentarfilm „Die Neunte“

Keine Vereinnahmung hat der Neunten langfristig geschadet

Was verbindet Bismarck und Bakunin, Lenin und Hitler, Engels und Adenauer? Sie alle waren Fans der „Neunten“ von Ludwig van Beethoven. Wie ist es möglich, dass die Kamikaze im 2. Weltkrieg mit den gleichen Klängen auf ihre Selbstmordkommandos geschickt wurden, die jetzt zur offiziellen Hymne des vereinten Europas erklärt wurden? Wie konnte das gleiche Musikstück in den USA als Triumphgesang der Demokratie, in Russland als Fanfare der Revolution, in Frankreich als republikanisches Heldenlied und im Deutschland von 1945 als Trostlied angesehen werden? Beethovens Symphonie hat eine höchst abenteuerliche Rezeptionsgeschichte, und dieser folgt Pierre-Henry Salfati in seiner Dokumentation „Die Neunte“ – und wirft bei dieser Spurensuche überraschende Schlaglichter auf die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Produziert wurde „Die Neunte“ von der Bremer Firma SurFilms zusammen mit Geldgebern aus Frankreich, Kanada und Großbritannien. Heute erlebt der Film in Bremen seine Uraufführung.

Beethovens Neunte hat über alle ideologischen und ästhetischen Grenzen hinweg seit ihrer Uraufführung 1824 eine erstaunlich langlebige Verführungskraft entwickelt, und keine Vereinnahmung durch ein Regime scheint ihr je nachhaltig geschadet zu haben. Regisseur Salfati brauchte nur zu sammeln: Keine einzige Aufnahme hat er selbst gedreht. In Filmarchiven, Stiftungen und Fernsehanstalten aus aller Welt fand er genügend Bilder und Töne für seine 78-minütige Dokumentation, die solide gezimmert ist, also eher inhaltlich als stilistisch überzeugt. Schon an der zurzeit allgegenwärtigen Erzählstimme Christian Brückners erkennt man, dass man hier lieber auf Nummer sicher gehen will.

Trotzdem ist das Bildmaterial beeindruckend und natürlich kann er bei den vielen grandiosen Einspielungen der Symphonie auch musikalisch aus dem Vollen schöpfen: Richard Strauß, Karajan, Furtwängler, Masur, Bernstein sind alle kurz zu hören und zu sehen.

Vielleicht wird ein wenig zu viel erklärt, aber dafür ist der Kommentar meist klug: „Die Neunte“ sei eine Mischung aus „Elegie, Kantate, italienischer und deutscher Oper, Militärfanfare und Requiem“ heißt es und musikalisch kann das auch immer sehr eindrucksvoll mit den passenden Passagen belegt werden.

Filmisch überzeugend ist Salfatis Dokumentation allerdings nur einmal: In der Sequenz über den ersten Weltkrieg, in dem „Die Neunte“ als „schönstes Schlachtlied“ beschrieben und eingesetzt wurde, ist ein Stakkato der Violinen rhythmisch genau passend zu Maschinengewehrsalven in historischen Aufnahmen montiert.

Im letzten Teil wird der Film ein wenig zu offiziös und salbungsvoll. Da wird haarklein erzählt, welches Gremium wann und warum Beethovens Symphonie zur Hymne des vereinten Europas wählte, und bei all den Fracks und steifen Hemden hat der Regisseur einen der umstrittensten Einsätze von Beethovens Komposition im späten 20. Jahrhundert wohl schlicht übersehen: Stanley Kubrick machte 1971 in „Clockwork Orange“ aus dem jungen Sadisten Alex ausgerechnet einen Fan von „Ludwig van“, und untermalte eine der Prügelorgien von Alex mit dem Satz „Ode an die Freude“.Wilfried Hippen

Uraufführung: heute um 20 Uhr im Atlantis