Eine massierte Grenzerfahrung

Nachdem die ersten Läufer längst ins Ziel gekommen sind, fängt für die Helfer der Massage-Schulen die Arbeit erst an. Hinter dem Zieleinlauf des Berlin-Marathons lockern sie verspannte Muskeln und lösen Krämpfe – viele gehen dabei bis zum Letzten

von JOHANNES GERNERT

Christine Welzel hält nicht viel vom Beineschütteln. Nicht nach dem Laufen. Beine müssten vorher geschüttelt werden – wenn überhaupt. Denn Schütteln baut Spannung auf. Nach 42 Kilometern, sollten Spannungen aber abgebaut, Krämpfe sanft herausgestrichen, Waden und Oberschenkel mit ruhiger Hand und wohl riechendem Öl entspannt werden. Wenn Christine Welzels Schüler an der Wannsee-Schule für Physiotherapie etwas gelernt haben, dann dies: „Wir behandeln bedarfsorientiert“, sagt die Massage-Lehrerin und klingt, als würde sie Unternehmen beraten. Die Schüler anderer Massage-Schulen, einige Liegen weiter, ermitteln anderen Bedarf. Sie schütteln auch mal. Christine Welzels Schüler schütteln nie.

Die Masseure der Wannsee-Schule stehen um die dunkelgrünen Bundeswehr-Bettgestelle einige hundert Meter hinter dem Brandenburger Tor. Um dorthin zu gelangen, müssen die Läufer ihre steifen Beine an den Medaillenhaufen vorbeischleifen, dann die dreckig-weißen Warmhaltefolien über die Schultern legen und schließlich rechts abbiegen. Nicht geradeaus, da werden nur waschwannenweise Schokoriegel, geschnittene Äpfel, Bananen und Brotscheiben verteilt.

„Die Ersten sind immer unsere Sorgenkinder“, sagt Borghild Rochna, Welzels Kollegin, weil „die krampfen“. Die Ersten an den Massageliegen sind nicht die Marathonsieger, nicht die Ersten im Ziel. Sie kommen gegen zwölf, eine Stunde nachdem der kenianische Gewinner (siehe Kasten) von den Kameras verfolgt wird, während man die fahrbahre Reklametafel mit der „real – Berlin-Marathon“-Aufschrift hinter ihm herschiebt. Die ersten an den Massageliegen, das sind die Ehrgeizlinge mit verzerrten Gesichtern und Rotz an der Backe, das sind die, die am Limit laufen, die Außenminister-Typen, die den langen Weg zu sich selbst nehmen. „Die, die später kommen“, sagt Rochna, „die nehmen das als Stadtrundlauf.“

Um zwölf aber wird noch geklagt, da werden Krämpfe vermeldet und Sonderwünsche geäußert. Um zwölf ist das auch in Ordnung, weil noch keine Schlangen aus vier, fünf, sechs Stadtrundläufern vor den Bundeswehr-Betten stehen. Da wird die Fünf-Minuten-Marke auch mal überschritten beim Kneten und Streichen.

Immer zwei Massageschüler nehmen sich ein Paar Beine vor, helle, dunkle, behaarte, rasierte, jeder eine Wade, einen Schenkel. Dann wird der Bedarf ermittelt. Leichtes tasten zunächst. „Aha“, sagt Borghild Rochna dann plötzlich und zeigt auf eine Masseurin, „die hat hier was gefunden.“ Einen harten Muskel vermutlich, eine verspannte Stelle, die gelöst, gelockert, „detoniert“ werden muss. Einige der Mädchen sehen aus, als hätten sie gerade am Skater-Marathon teilgenommen. Sie haben sich schwarze Schoner um die Kniee gebunden, damit sie beim Massieren nicht die ganze Zeit stehen müssen. Wenn jemand nicht mehr kann, lösen die Lehrerinnen ab.

Fabian Günther braucht keine Ablöse. Er kniet auch nicht, er steht. Es ist sein drittes Jahr im Marathon-Massagedienst neben einem der 180 Bundeswehr-Bettgestelle. Vier Schulen schicken ihre Auszubildenden. Fabian Günther macht den Job ohne Bezahlung, weil ihm das Erfahrung bringt. „Man hat halt viele Beine in der Hand.“

Es riecht nach Öl, Schweiß und Gatorade. Die Gespräche in den Warteschlangen vor den Liegen drehen sich um persönliche Bestzeiten, um andere Marathonläufe, um alte Verletzungen und um die gegenwärtige körperliche Verfassung. „Manchmal werden die Leute richtig von Glücksgefühlen überschwemmt“, sagt Fabian Günther. So wie der Österreicher, der immer wieder „gigantisch“ sagt, während er die Langlaufveranstaltung in Wien mit der in Berlin vergleicht. In Wien wird auch massiert, aber dort kommen auf zwei Beine nur zwei Hände, nicht vier. „Beidseitig, das ist ja geil“, ruft deshalb auch einer, „hier bleib ich.“ Manche würden wohl auch nach der Massage gerne bleiben. Gelegentlich müssen Fabian Günther und sein Mitschüler am Ende unter die Schultern greifen, um die kraftlosen Körper von der Liege zu heben. Meist ist das nur eine kleine Starthilfe. Wenn die Leute wirklich nicht mehr können, „dann gehen die direkt dorthin“, sagt er und zeigt auf das Rot-Kreuz-Zelt gegenüber. „Oder sie werden gleich mit der Trage geholt.“

Die meisten aber sind vergleichsweise frisch geblieben unter der Warmhaltefolie, sagen nach der Entspannungsmassage freundlich Danke und gehen dann einige Schritte weiter, um sich umzuziehen. Die eingetütete Kleidung hängt in den Lastwagen am Ende der Straße.