Zu kalt zum Ausgehen

Auf der Veranstaltung „Shrinking Cities Musik“ im Volkspalast wurde verhandelt, warum Subkulturen in niedergehenden Städten so gut gedeihen. Dabei kam heraus: Mystifizierung kommt oft von außen

VON ANDREAS HARTMANN

Es ist kalt. In der Ecke stehen ein paar Bauzäune, die staubigen Fenster sind immer noch mit ein paar schlechten Graffiti verschmiert und die Toiletten, die sind draußen. Wir befinden uns in der Eingangshalle des ehemaligen Palasts der Republik, der zurzeit, bevor die Abrissbirne kommt, ein letztes Mal unter dem Namen „Volkspalast“ kulturell bespielt wird.

Dieser Ort des Verfalls, der vergangenen Glanz nur noch schwer erahnen lässt, lieferte die perfekte Kulisse: Im Rahmen der Kunstwerke-Ausstellung „Shrinking Cities“ sollte hier drei Tage lang darüber diskutiert werden, welche Wechselwirkungen es zwischen dem Phänomen einer postindustriell gebeutelten und schrumpfenden Stadt gibt – und was das alles mit der Musikkultur zu tun hat, die in ihr entsteht.

Um das Ganze nicht nur theoretisch in Diskussionsrunden abzuhandeln, sollte sich abends das Gelernte auch noch ertanzt werden. Geladen waren dazu DJs und Bands aus paradigmatischen „Schrumpfstädten“ wie Detroit, Manchester, Glasgow und St. Petersburg. Musikalisch konnte man hier also aus dem Vollen schöpfen. Schließlich lautete die Grundthese der Veranstaltung ja, dass gerade Städte, die nach einer Phase des industriellen Aufschwungs wirtschaftlich zerfallen und sich zunehmend entvölkern, Freiräume schaffen. Schließlich stehen in Städten wie diesen plötzlich Gebäude leer, die man billig in Clubs oder Übungsräume umwandeln kann.

So verwandelte sich zum Beispiel das wirtschaftlich am Boden liegende Manchester Ende der Achtziger in ein buntes „Madchester“, das eine Zeit lang als Nabel der Popkultur galt und in dem Acidhouse groß wurde. Die geladenen 808 State, ehemals wichtige Repräsentanten dieser Aufbruchstimmung in Manchester, vermochten es bei ihrem Set jedoch nicht, die vergangene pillenselige Zeit des Rave-Taumels nochmals heraufzubeschwören. Der Volkspalast ließ sich einfach nicht plötzlich in die „Hacienda“ verwandeln, in den legendären Club, der damals den Nukleus von Madchester bildete. Und 808 State sind heute eben leider einfach eher abgemeldet.

Es war ein Problem der Veranstaltung, dass das Thema „Musik und schrumpfende Städte“ auch vor einem Schrumpfpublikum verhandelt wurde. Selbst das Interesse der wenigen Partypeople, die bis in die späten Stunden geblieben waren, war nach den anstrengenden Panels, na ja, eher geschrumpft. Leider fiel auch der geplante Tusch zum Schluss ins Wasser. Als geheimer Ehrengast war Derrick May geladen, ein Urgestein des Detroit-Technos, der sich nur noch ganz selten an die Turntables bitten lässt, bei vielen jedoch als einer der besten DJs der Welt gilt. Doch Derrick May hatte kurzfristig abgesagt.

Dabei wäre er enorm wichtig gewesen, ihn hätte man gerne gehört. Denn Detroit-Techno stand bei den zuvor gehörten Diskussionen eindeutig im Vordergrund. Wieder einmal näherte man sich hier dem Phänomen, dass in Detroit zwar diese für Europa so ungemein wichtige und einflussreiche Musik namens Techno entstanden ist, dies aber in keiner Weise Einfluss auf die nordamerikanische Stadt selbst hatte. Thomas Meinecke, der in seinen Büchern immer wieder seine Faszination für Detroit-Techno als subversiver afroamerikanischer Musik beschrieben hat, berichtete, wie er sich als Fan einmal aufmachte, um in Detroit selbst Mythenforschung zu betreiben. Allein: Er konnte keine sichtbaren Spuren von Techno entdecken, keine Clubs, keine brodelnde Subkultur. Jeff Mills, ehemals Techno-Pionier und heute Techno-Aristokrat, erklärte sich dies damit, dass es in Detroit vor allem im Winter so unwirtlich sei, dass man als Technoproduzent lieber zu Hause bleibe und Instrumente erlerne als auszugehen.

Zeig mir deine Stadt, und ich sage dir, welche Musik hier gemacht wird: Vor allem am Beispiel Detroit zeigte sich auf diesem Panel, dass es so einfach eben nicht funktioniert.

Erfrischende Aspekte brachte diesbezüglich auch der gezeigte Film „The Last Angel Of History“ von John Akomfrah in die Diskussion. Er erklärt, dass afroamerikanische Musik wie Techno weniger im Hier und Jetzt und damit in einer urbanen Realität verankert ist, als sich schon immer eine andere Welt, eine bessere Zukunft zu ersehnen. Deshalb haben Detroit-Techno-Produzenten immer versucht, ihre Musik futuristisch klingen zu lassen, jenseitig, vielleicht sogar von einem anderen Planeten kommend.

„Madchester“ versetzte eine ganze Stadt in Ekstase, die so ein neues Selbstbewusstsein gegenüber der übermächtigen Kulturmetropole London entwickelte. Die Geisterstadt Detroit dagegen, deren fordistische Glanzzeiten weit zurückliegen und in der heute ein Drittel der gesamten Stadtfläche brachliegt, wurde von den dort lebenden Technoproduzenten nie mystifiziert. Die Stadt wurde eher zu einer Projektionsfläche von außen.

Als Detroit-Techno in Europa groß wurde, verlagerte sich das Geschehen zunehmend nach Europa, vor allem auch nach Berlin. „Techno verlässt die Stadt“, merkte Diedrich Diederichsen hierzu an. Detroit mag zwar für eine bestimmte Subkultur eine heilige Stadt sein – nur wird sie das nicht davor bewahren, langsam weiter vor sich hin zu sterben.