Schweigen in Blau

Endstation Kuba: Arnold Stadler lässt in seinem neuen Roman „Eines Tages, vielleicht auch nachts“ einen Mann an der Liebe sterben

von KLAUS SIBLEWSKI

Arnold Stadler hat mittlerweile zu einem markanten, leicht wieder zu erkennenden Prosaton gefunden. Er schreibt ironisch und spitzfindig auf höchst eigenwillige Art. Viele Formulierungen legen ihren sperrigen Charakter erst bei wiederholtem Lesen ab. Ein verkappter, aber zäher Klerikalismus gibt seinen Wendungen unverhofften Halt und eine Richtung auf ein existenzialistisches Denken jenseits der einschlägigen Dogmatik und Diktion. Immer hat man den Eindruck, Stadler würde über sich sprechen und seinen autobiografischen Büchern ein weiteres hinzufügen, auch dann, wenn er wie im neuen Roman „Eines Tages, vielleicht auch nachts“ erkennbar von jemand anderem spricht und diesem den Namen Franz Marinelli gibt.

Allein schon der Name Franz Marinelli: Mit ihm wird das beispielhaft Zerrissene dieses Menschen gefasst. Einerseits stammt er aus Österreich, andererseits weist seine Herkunft zurück auf Italien. Einerseits lässt Stadler seinen Marinelli von warmen Ländern träumen, andererseits gehören seine liebsten Erinnerungen dem Fallen des ersten Schnees – und dabei darf man an Ernst Bloch und dessen Metapher vom Wärme- und Kältestrom denken, die in der Geschichte und im Leben des Einzelnen einen unversöhnlichen Widerstreit bilden: mit stetig frostigem Ausgang bislang.

Bevor man weiter ins Schwärmen gerät und seinen zielsicher durch den Roman angestoßenen Einfällen nachhängt, erstmal zur Sache: Drei Kapitel hat das Buch. Im ersten schildert Stadler Marinellis Herkunft mit den lauten Szenen im Schlafzimmer der Eltern. Die Mutter beschimpft den Vater als Lügner, weil er, ein angesehener Pathologe in Wien, sich mit Freundinnen in einem Wohnmobil vergnügt, ihr gegenüber aber den treuen Ehemann spielt.

Im zweiten und dritten Kapitel hält sich Marinelli in Kuba auf, trifft dort Ramona, eine jüngere Frau, und verliebt sich in sie. Allerdings bemerkt er zu spät, dass er die Unfähigkeit seines Vaters übernommen hat, sich in der Liebe festzulegen. Er schläft erst mit Ramonas angeblich schwulem Freund, dann tröstet er noch eine ältere Dame aus Wien. Er ist blind gegenüber der wahren Natur seiner Gefühle und bekommt deshalb nicht nur nicht mit, dass dieses kubanische Mädchen seine große Liebe ist. Ihm entgeht auch, dass sich seine Empfindungen gegen ihn verschworen haben, putschen werden, mit nichts Geringerem beschäftigt sind als mit seiner Vernichtung.

Beeindruckend an der Schilderung von Marinellis finalem Absturz aus Liebe ist Stadlers wüste Art, diese Geschichte zu erzählen. Viele Formulierungen sind auf verdrehte Weise passend und stoßen reichhaltige Assoziationen an: „Wien war so lange her, daß er in einem Hotel übernachtete.“

Stadler schweift gerne in Kleinstfeuilletons ab, eindeutig ebenfalls zum Gewinn des Romans: „Die Globalisierung hatte ja leider dazu geführt, daß die ganze Welt dieselbe Badehose trug.“ Und viele von diesen Glossen am Rand erhalten noch einen das Erzählklima zusätzlich aufputschenden Zug ins Philosophisch-Religiöse: „Die Großmutter war noch mit Gott großgeworden.“

Einen wichtigen Halt bekommt der bittere Ernst, der hinter Stadlers Unernst liegt, durch das Spiel mit Realitäten, das er betreibt. Zwei österreichische Schriftstellerikonen, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, tauchen auf; sie gehören angeblich einer Schriftstellerdelegation an, deren Besuch Marinelli in Kuba vorbereiten soll, was sie aber nie vorgehabt haben.

Diese Inkorrektheiten sind aber nicht weiter von Belang: Durch die bloße Namensnennung bekommt die Fiktion einen zusätzlichen Stich ins Realistische. Davon profitiert das Buch auch in seiner politischen Dimension. Für Stadler ist Castro nach „dem heiligen Fidelis von Sigmaringen“ benannt, was ebenfalls eine Verdrehung ist. Wenn Stadler aber die Geschichte dieses Heiligen weiter andeutet, „der einst“, wie er schreibt, „von wütenden Calvinistenbauern im Hinterland von Chur erschlagen worden war“, dann setzt er seine Sicht auf Kuba hart von alter Revolutionsromantik und neueren Buena-Vista-Social-Club-Sentimentalitäten ab, das aber in Abweichung von Marinellis Gefühlen.

Seine größten Momente hat Stadler, wenn die Liebesgeschichte jeweils von den Betten wieder in Marinellis untröstlichem Herz landet und er sich in immer gröbere Aussichtslosigkeiten verrennt. Dazu gehört auch das Ende des Romans: Marinellis Abstieg und sein durch den Alkohol beschleunigt eintretender Tod. In der Schilderung dieser diffizil auf der Grenze zwischen Fantastik und falscher Metaphysik liegenden Vorgänge setzt Stadler sicher seine Schritte. Er wird sparsamer im Erzählen und versagt sich jeden Kommentar, ob in diesem Niedergang aus Liebe ein höherer Sinn liegen könnte. Nach Marinellis Tod schreibt er einen einzigen Satz: „Dem fügen wir das Schweigen und die Farbe Blau hinzu.“

Dem ist nur noch hinzuzufügen: Wenn das überhaupt möglich sein sollte, dann ist Stadler ein zum kleinbürgerlichen Milieu der Bundesrepublik mutierter Nachfahre von Beckett.

Arnold Stadler: Eines Tages, vielleicht auch nachts, Jung und Jung, Salzburg 2003, 189 Seiten, 18 Euro