Ottos Orden

Das Sportabzeichen hat einiges mitgemacht. Kaiserzeit, Krieg und schließlich die Fitnesswelle. In diesem Jahr wird der geprüfte Fünfkampf neunzig. Ein Besuch auf dem Sportplatz

von JUTTA HEESS

Der Mann öffnet den Reißverschluss seiner Windjacke. Die Farbe des Trainingsanzugs, den er darunter trägt, ist kaum zu erkennen. Eine Sammlung zahlloser Aufnäher verdeckt den Stoff. Stolz präsentiert Otto Horn die Emblempracht. „Das hier“, erklärt er, „das ist vom Marathon in Athen.“ Er pikst sich mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Und das von Honolulu.“ Seine exotischsten Orden. Der Rest ist heimisch: verschiedene Sport- und Laufabzeichen des Deutschen Sportbundes, eines ziert sogar seine Baseballkappe.

Otto Horn ist 79 Jahre alt. Doch sein Alter sieht man ihm nicht an. „Sport hält eben jung.“ Auf dem Sportplatz zumindest ist er oft genug: Zweimal in der Woche fährt der Rentner auf das Gelände im Berliner Stadtteil Neukölln. Hier hat er sein Arbeitszimmer und sein Gerätelager, beides in einem grünen Holzhaus am Rande des Platzes. Horn öffnet die Tür. An der Wand hängt ein Poster mit einer großen Sportabzeichenabbildung und eine Tabelle, auf der die Anforderungen nach Geschlecht und Altersklasse aufgelistet sind.

Der Athlet kommt hierher, um das Sportabzeichen abzunehmen. Seit 25 Jahren. Knapp dreihundert Plaketten vergibt der Sportzeichenwart im Jahr, auch an behinderte Sportler. Damit erreichte sein Verein LC Stolpertruppe 2002 den zweiten Platz des Sportabzeichenvereinswettbewerbs des Berliner Landessportbundes. „Hier auf dem Foto sehen sie mich bei der Verleihung.“ Auf dem Bild trägt Horn Anzug und Krawatte – mit einer kleiner Sportabzeichennadel am Revers. Selbst hat er den Fünfkampf bereits 33-mal erfolgreich absolviert. „Ich bin auch 25 Marathons gelaufen“, ergänzt er. „Mit einer Bestzeit von drei Stunden und achtzehn Minuten im Alter von 65 Jahren.“

Erwin, sein Freund, kommt rein, und Otto Horn unterbricht seine Erfolgsgeschichte. „Erwin hat das Sportabzeichen schon 36-mal gemacht.“ Der Sportskamerad lacht und präsentiert seine Mappe, die er extra für den Interviewtermin mitgebracht hat. Sein erstes Emblem liegt schon etwas zurück. „1943 war das, sehen Sie, da ist noch das Hakenkreuz drauf.“

Vor der Holzhütte versammeln sich jetzt schon die Anwärter. Zwei Frauen um die 60, vier Männer zwischen 45 und 75, ich und ein Mädchen, deren Vater mir Horn vorstellt. Name, Alter, Anzahl der Orden: „Fritz Matzke ist 68 und hat 47 Sportabzeichen.“ Während Horn und sein Wettkampfrichter Siegfried die Prüfung vorbereiten, erklärt Matzke, wie er zu der rekordverdächtigen Zahl gekommen ist. „Ich bin Asthmatiker, und mein Arzt empfahl mir schon früh, Sport zu treiben.“ Mit seinem Vater sei er regelmäßig zum Sportplatz gegangen und habe das bis heute beibehalten. „Jedes Abzeichen ist für mich der Beweis, dass Sport besser hilft als alle Medikamente.“

Matzke findet es gut, dass das Sportabzeichen heutzutage eine Medaille des Breitensports ist. Er erinnert sich nämlich noch an die Erzählungen seines Vaters, der zur Zeit des Nationalsozialismus das so genannte Reichssportabzeichen machte – eine Ehrung, die optimal in das damalige Wunschbild vom gesunden Volkskörper passte.

Die Anforderungen seien viel höher gewesen. „Ein übertriebener Leistungsdruck, wirklich nur vom gestählten Körper zu erbringen“, sagt der pensionierte Ingenieur und schüttelt den Kopf. Außerdem sei es damals undenkbar gewesen, eine Kategorie für Behinderte einzuführen. „Es gefällt mir, dass das Sportabzeichen trotz der Anrüchigkeit den Sprung in die heutige Zeit geschafft hat.“

Otto Horn ist fertig. Er stellt seine schwarze Ledertasche mit dem Herz-Aufkleber „I love Sportabzeichen“ am Rand der Tartanbahn ab. „Wir laufen uns gemeinsam eine Runde ein“, ruft er. Langsam setze ich mich in Bewegung. Horn gibt Kommandos: Hacken hoch, Knie hoch, Hopserlauf, Gymnastik. Alles ganz gemächlich, ins Schwitzen komme ich dabei noch nicht.

Dann die Order: „Wir beginnen mit dem Kugelstoßen.“ Horns Sätze sind zackig, aber nicht unfreundlich. „Wenn es hier genauso wäre wie beim Militär, würde ja keiner mehr kommen“, sagt er später. Der Sportabzeichenwart war Offizier der Wehrmacht, zwei Jahre im Krieg, dann in amerikanischer und britischer Gefangenschaft. Bevor das Kugelstoßen losgeht, erklärt er Technik und Regeln. „Nach dem Stoß ordentlich hinten raus aus dem Ring.“ Es geht los, jeder hat drei Versuche. Vier Kilo Kugel liegen schwer in der Hand und kalt am Hals, jetzt schnell drehen und weg damit in den Sand. „Schön!“, kommentiert Siegfried, der die Weite nimmt. „Jawoll!“, skandiert Horn und schreibt die Ergebnisse auf. Nie verliert er dabei seine Prüflinge aus den Augen. „Übergetreten! Der Versuch ist ungültig.“ – „Ganz schön pingelig“, flüstert jemand.

In den Ring tritt unterdessen Ingelore Kerkau. Die 63-Jährige will heute ihr drittes Sportabzeichen machen. Doch die geforderten 5,25 Meter verfehlt sie knapp. „Das macht nichts“, meint sie zuversichtlich. „Das kann ich ja mit hundert Meter Schwimmen ausgleichen.“ Für sie ist die Prüfung Spaß und Ansporn zugleich. „Jetzt oder nie“, habe sie sich vor drei Jahren gedacht. Seitdem trainiert sie regelmäßig.

Nach dem Kugelstoßen werden drei weitere leichtathletische Disziplinen abgenommen: Weitsprung, Sprint und Langstreckenlauf. Wir schaffen alle die geforderten Weiten und Zeiten, den Sand der Weitsprunggrube bekomme ich allerdings nicht mehr so leicht aus Zähnen und Socken raus. Die verschwitzten Teilnehmer tragen sich bei Otto Horn in eine Liste ein und verabschieden sich. Er schreibt die erreichten Leistungen an einem kleinen Sekretär in die offiziellen DSB-Prüfkarten.

Hinterher erzählt Horn, wie er selbst sein erstes Abzeichen erworben hat. In seiner Rekrutenzeit sei das gewesen, unter viel härteren Bedingungen als heute. „Der Sport hat mir damals schon Spaß gemacht, ich denke gerne an diese Zeit zurück.“

Auf die Frage, ob er etwas über die Geschichte des Sportabzeichens wisse, holt er einen Zettel aus seiner schwarzen Tasche und rückt seine Brille zurecht. Er habe sich extra etwas aufgeschrieben, erklärt er und beginnt die Vita der Medaille vorzulesen. Den Hinweis, dass deren Erfinder Carl Diem zur Zeit des Nationalsozialismus sehr aktiv war, kommentiert er mit einer schnittigen Handbewegung. „Das muss man ja nicht unbedingt erwähnen.“

Kampfrichter Siegfried kommt zur Tür herein und räumt das Maßband und die Kugeln zurück in den Schrank. „Leise, das ist doch ein Interview“, zischt Horn ihn an. Siegfried entschuldigt sich und verschwindet.

„Für mich ist es eine Genugtuung, das Sportabzeichen jedes Jahr zu erwerben“, erklärt Otto Horn. „Sport ist Leben, hält fit und jung.“ Disziplin, Körperkontrolle, Selbstbewusstsein und Willensstärke – das sind die Vokabeln, die der 79-Jährige gern benutzt. Dabei hebt er dozierend die rechte Hand, Zeigefinger und Daumen berühren sich. Seit seiner Pensionierung macht der ehemalige Busfahrer mehr Sport denn je: „Mindestens dreimal in der Woche Joggen und Schwimmen, danach in die Sauna.“ Den Marathon auf Hawaii ist er bereits viermal erfolgreich gelaufen. Alle seine Auszeichnungen und Pokale hat er zu Hause sichtbar platziert: „Sie können mal kommen und meine Ehrenwand anschauen.“

Den Ehrgeiz und die Fitness von Otto Horn haben sicher die wenigsten der Sportabzeichenabsolventen. In der Regel kommen Menschen ab 45 zu ihm, um die Prüfungen abzulegen. „Das ist das Alter, in dem die ersten Wehwehchen auftauchen, und der Arzt empfiehlt, Sport zu treiben“, erklärt er. Aber aus dem Stegreif würde keiner das Sportabzeichen packen, man müsse seinen Körper schon fördern.

Otto Horn klappt den Deckel seines Sekretärs zu und steht auf. Draußen auf dem Sportplatz laufen einige ältere Herren ihre Runden. „Grüß dich, Otto!“, ruft einer. Horn winkt zurück und schließt das grüne Holzhäuschen ab.

In drei Tagen kommt er wieder, da steht die nächste Abzeichenabnahme auf seinem Programm. Zum Abschied gibt es einen festen Händedruck. Und eine ungewohnte Gratulation: „Herzlichen Glückwunsch! Jeder, der das deutsche Sportabzeichen erwirbt, trägt einen deutschen Orden.“ Otto Horn jedenfalls hat schon 33.

JUTTA HEESS, 31, lebt als freie Journalistin in Berlin und ist sportlich genug, um bei Otto Horn ohne Probleme ihr erstes Deutsches Sportabzeichen erwerben zu können. Nur an der Kugelstoßtechnik muss sie noch arbeiten