Das Protokoll vom Leben

Wanda Schrade erzählt ihre Geschichte und die ihres Mannes. Seit drei Monaten lebt er im Hospiz. Dort wird er gepflegt und palliativ – schmerzlindernd – betreut. Er hat einen Gehirntumor, der nach und nach seine Körperfunktionen auslöscht. Am Ende wird er aufhören zu atmen

Der Tod gilt als was Schreckliches, aber mit Zuwendung ver- kraftet man ihn besserDas Hospiz als solches ist eine Endstation. Ein unangenehmes Wort

von WALTRAUD SCHWAB

Wanda Schrade begleitet ihren 72-jährigen Mann beim Sterben. Seit drei Monaten lebt er im Theodorus Hospiz in Moabit, das in einer Etage im alten Krankenhaus an der Turmstraße eingerichtet wurde. Das Zimmer, in dem Ernst Schrade liegt, hat keine Nummer. Stattdessen ist es dem Oleander gewidmet. Blume des Südens. Dorthin ist Schrade gerne gereist. Groß ist der Raum, früher war Platz für vier Kranke. Heute stehen zwei Betten drin. Eines für den Mann. Durch den Gehirntumor ist er mittlerweile gelähmt. In sich eingeschlossen liegt er in den Kissen. Sprechen kann er nicht mehr, obwohl er sich, das ist zu merken, gerne in das Gespräch einmischen würde, das seine Frau mit einem alten Freund ihres Mannes führt. Über Brot sprechen sie und dass es unmöglich ist, in Berlin gutes zu finden. Von Brot versteht er etwas. Er war Konditor. Das zweite Bett ist für seine Frau. Auf ihm sind die Decken glatt gestrichen. – Gespräche mit Frau Schrade. Ein Protokoll:

„Ich verstehe die Hemmungen, die man davor hat, einen Menschen ins Hospiz zu bringen. Aber man muss abwägen, ob man ihn zu Hause noch richtig pflegen kann. Ich habe es versucht. Doch dann konnte sich mein Mann nicht mehr umdrehen. Ich hab mich kaputtgemacht dabei. Das war nicht zu schaffen. Ich bin noch berufstätig. Mein Mann ist älter als ich. Zwanzig Jahre. Und das weiß ich: Meine Arbeit im Virchow-Krankenhaus kann ich nicht aufgeben. Ich bin Röntgenassistentin. Das ist auch Teil meines Lebens.

Mein Mann hat einen Hirntumor, Glioblastom, sehr aggressiv. Sein Sprachzentrum ist zerstört. Kommunikation ist unmöglich, obwohl er zu sprechen versucht. Auch Handzeichen – einmal drücken ist ja, zweimal drücken ist nein – sind gescheitert. Zum Sprachzentrum, das der Tumor zerstört, gehört die Spracherfassung.

Im Januar tauchten die ersten Symptome auf. Aus heiterem Himmel. Er stammelte plötzlich, war kaum zu verstehen. Ich dachte: ‚Schlaganfall‘. Aber die Diagnose war anders. Man kann wenig machen bei diesem Tumor. Strahlentherapie, ja, aber sie hat nichts gebracht. Operation ging nicht mehr. Die Lebenserwartung mit Glioblastom ist kurz. Ein paar Monate. Bei Älteren, bei denen sich die Zellen langsamer teilen, ein paar Monate mehr.

Pflegeheim kam für mich nicht in Frage. Deshalb habe ich ihn selber versorgt. Durch den Tumor hat er Ödeme im Kopf. Oft ist er gefallen. Später kamen die Lähmungen. Dagegen hat er Cortison gekriegt, das hat ihn so aufgedreht, dass er nicht schlafen konnte. Dann klappte das mit der Toilette nicht mehr. Manchmal hab ich viermal nachts das Bett abgezogen. Der Homecare-Arzt hat gesagt, dass es so nicht mehr weitergeht. Ich habe es nicht mehr geschafft. Ich wollte doch auch meine Arbeit weiter machen. Sie wissen gar nicht, wie wichtig Arbeit in so einer Situation ist. Das Mitgefühl der anderen hilft. Seit drei Monaten ist er jetzt im Hospiz.

Für mich ist es wichtig, dass ich jederzeit hier sein kann. Tags, nachts, wann immer ich will. Wenn ich arbeite, ist er betreut. Ich versuche auch manchmal, zu Hause zu übernachten. Aber am Anfang habe ich es nicht ausgehalten. Die Zeit, die er hier ist, ist für mich eine positive Zeit. Ich kann Abschied nehmen. Im Herzen bin ich noch nicht allein. Ich komme hierher und erzähle ihm von meinen Tag. Irgendwann ist alles gesagt. Dann lese ich ihm aus der Zeitung vor.

Hospize sind eine sehr gute Institution. Es stört mich nicht, dass hier keine Terrasse vor dem Fenster ist. Hier ist es trotzdem ganz anders als im Krankenhaus. Die Schwestern, die Pfleger, die machen das aus Berufung. Das möchte ich behaupten. Sie sind da.

Über den Tod reden die Leute im Alltag so wenig. Mein Mann hat das aber angesprochen. ‚Es kann immer was passieren‘, hat er gesagt. Als er vor zehn Jahren anfing, dachte ich, ‚der spinnt‘. Wir haben so viele schöne Jahre miteinander verbracht.

Wenn ich heute mit meinen Kollegen lache, meine ich plötzlich, mein Verstand schaltet sich aus. Mir kann keiner helfen. Mehr als Zuhören ist nicht möglich. Ich muss alleine durch. Ich weiß nicht, wie ich reagieren werde, wenn er tot ist. Ob ich nur dasitze oder ob ich einen Schreikrampf kriege, ob ich anfange, unkontrolliert zu essen.

Ich komme aus Polen. Ich habe meinen Mann in Frankfurt am Main kennen gelernt. Er war Produktionsleiter in einer großen Brotfabrik. Vor 25 Jahren brauchte man noch eine Einladung, um ins Ausland zu kommen. Die Reise, das war eine Odyssee. Alle diese Kontrollen an der Friedrichstraße. Dann in Frankfurt (Oder) die Grenze. Mein Mann hat trotzdem nicht locker gelassen. Ist gekommen nach Polen. Wir haben dann dort geheiratet und ein paar Monate später bin ich ausgereist. In Deutschland hat er mich sofort auf die Sprachschule geschickt. Wie das Leben so komisch spielt, heute bin ich Leiterin der Röntgenabteilung in der Zahnklinik im Virchow-Krankenhaus.

Nein, ich weiß nicht, wie ich auf seinen Tod reagieren werde. Wenn er stirbt, ein Loch, plötzlich hab ich viel Zeit. Das Leben geht weiter. Die Traurigkeit geht vorbei, aber das Begreifen wird erst später kommen. Das Alleinsein? Ich weiß nicht. Was das Leben bringt, da mache ich mir keine Sorgen. Da mache ich mir keine Gedanken, was das Leben bringt. Sie glauben nicht, wie hilfreich es ist, arbeiten zu können.

Bei dem Gehirntumor, den mein Mann hat, bewirkt die Strahlentherapie eine Lebensverlängerung von einem halben Jahr. Ich komme aus der Radiologie. Ich weiß es. Aber ich konnte ihm das mit dem halben Jahr nicht sagen. „Wenn das nicht hilft, gibt es keine Heilung“, habe ich zu ihm gesagt. Aber der Mensch hat immer Hoffnung. „Gut, ich kann morgen sterben, aber ich kann auch noch zehn Jahre leben“, hat er geantwortet. Sie wissen, dass es jeden Moment zu Ende geht, wir wissen es auch, aber das Gehirn macht so eine Schranke. Die Menschen sollen keine Angst haben vor dem Hospiz. Der Tod gilt als was Schreckliches, aber mit so einer Zuwendung, die man hier kriegt, verkraftet man das besser.

Mein Mann war Konditor. Ein gesprächiger Mensch. Er hat Gedichte geschrieben. Reime waren ihm wichtig. Sachen wie: ‚Wir waren uns fremd / wir sprachen nicht viel / Kein Mensch weiß warum / die Welt uns gefiel‘. Nun ist das Organ, das er am liebsten benutzte, zerstört. Wie bei Beethoven, der taub wurde. Mein Mann war groß. 1,82 Meter. 90 Kilo. Ein richtiger Bäcker. Manchmal kam ich nach Hause und es roch schon im Flur nach Kuchen. Ich hab ihn überredet, auch Brot zu backen. Die letzten vier Jahre haben wir kein Brot gekauft. Vielleicht wird der Geschmack von gekauftem Brot nun immer mit seinem Tod verbunden sein. Oder mit seinem Leben.

Ich freue mich über jeden Tag, den er noch lebt. Er weiß, dass er im Hospiz ist, obwohl der Tumor schon so groß ist, dass er auf das Kleinhirn drückt und die Organe nicht mehr funktionieren. Bald wird er aufhören zu atmen. Das einzig Gute bei diesem Tumor: Mein Mann hat keine Schmerzen. Die Hirnsubstanz leitet den Schmerz nicht.

Mein Bett steht so, dass die Pfleger oder Krankenschwestern vorbeikönnen. Die ersten zwei Monate hab ich hier nicht gut geschlafen. Aber jetzt schlafe ich gut. Alle zwei Stunden kommt jemand und guckt, ob mein Mann Durst hat, ob er nass ist. Er liegt schon zwei Monate ununterbrochen und hat noch keine offenen Stellen. Mittlerweile schlafe ich so gut, dass ich es gar nicht mehr merke, wenn sie nachts reinkommen. Ganz am Anfang wollte ich auch hier alles selber machen. „Sie sollen Ihren Rücken schonen“, sagten die. Aber ich wollte ihn pflegen, weil das ist ja etwas von Liebe. Wenn ich es jetzt zulasse, dass sie mir helfen, dann pflegen die meine Seele mit.

Die Leute, die das lesen, sollen erfahren, dass sie keine Angst vor dem Hospiz haben sollen. Es ist kein Abschieben. Ich habe sogar schon Tiere hier zu Besuch gesehen. Langweile hat man auch nicht. Sie glauben gar nicht, wie lange es dauert, jemandem Essen zu geben, jemanden zu waschen. Wenn ich nichts zu tun habe, kann ich fernsehen, Radio oder Musik hören. Ich habe hier auch schon viele gute Bücher gelesen. Wenn ich jemanden brauche, mit dem ich sprechen kann, gehe ich raus und setze mich zu einer Schwester. Das geht. Ich möchte den Leuten vom Hospiz gerne etwas zurückgeben. Mir wird etwas einfallen. Und wenn man sich nur um die Pflanzen hier kümmert. Oder neue Fische fürs Aquarium kauft.

Im Hospiz erlebt man etwas, was unsere Gesellschaft verlernt hat. Vor 100 Jahren gehörte das Sterben zum Leben. Und heute ist das weg. Die Leute sollen natürlich nicht jeden Tag an den Tod denken. Um Gottes Willen, man soll das Leben genießen. Aber wenn der Tod kommt, sollen sie keine Angst haben.

Sie glauben nicht, wie unwichtig viele Sachen sind. Man soll sich über jeden Tag freuen. Das habe ich gelernt. Man soll Abstand halten vom Ärger. Wenn ich hierher komme und sehe, dass das Leben zu Ende geht, dann fragt man sich, worüber hat man sich geärgert. Man wird sanfter. Mir geht es jedenfalls so.

Das Hospiz als solches ist zwar eine Endstation. Das ist ein unangenehmes Wort. Aber es ist so.“

Berlin, den 16. September 2003