Kampf um Lebensmittel

Vor einer Woche verwüstete der Wirbelsturm „Jeanne“ Haiti. Noch immer sind nicht alle Toten geborgen. Die Überlebenden müssen sich um die wenigen Hilfsgüter streiten

BERLIN taz ■ Helmut Schrader war nach Gonaïves gekommen, um den Menschen in der Umgebung der knapp 250.000 Einwohner zählenden haitianischen Hafenstadt zu helfen, der „permanenten menschlichen Katastrophe“ von Hunger und Elend zu entkommen. Jetzt saß er auf dem Dach des einstöckigen Büros der Diakonie Katastrophenhilfe, das sich unter ihm blitzschnell mit fauligem Brackwasser füllte. Das war vor einer Woche. Der Tropensturm „Jeanne“ verwüstete Haiti. Nur mit Mühe hatten sich Schrader und ein Angestellter retten können. Das Haus bebte, schwankte und das Wasser schwappte immer höher. Zum Schluss musste der Betriebswirt auf den Wassertank des Hauses klettern, um nicht von den Wellen des Hochwassers weggespült zu werden.

Andere Bewohner von Gonaïves oder weiteren Ortschaften im Norden Haitis hatten nicht so viel Glück wie Schrader. Mehr als 1.300 Tote zählt die Statistik gegenwärtig, die wirkliche Zahl dürfte höher liegen, denn noch rund 1.100 Menschen sind als vermisst gemeldet. Vermutlich wird es niemals eine zuverlässige Aufstellung der Flutopfer geben. Jetzt geht es erst einmal darum, die Überlebenden und die rund 160.000 Obdachlosen mit dem Nötigsten zu versorgen. Mitglieder der UN-Blauhelmtruppen Minustrah patrouillieren durch die Stadt. Sie sollen Plünderungen verhindern und die wenigen Lebensmitteltransporte schützen, die bisher in die Stadt über die zum Teil schwer überflutete und weggeschwemmte Straße zwischen der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince und Unglücksregion gelangt sind. Sieben Stunden braucht jeder Transport, und manche werden unterwegs angegriffen. Noch immer steht der Flughafen der Stadt unter Wasser.

An den Verteilungsstellen für Lebensmittel und Wasser spielen sich Dramen ab. Die Stärkeren vertreiben diejenigen, die schwächer sind und sich nicht wehren können, um schneller an die wenigen Lebensmittelpakete zu kommen, die zur Verfügung stehen. Aber was wollen die Menschen mit Reis, wenn sie ihn aus Ermangelung von Feuerstellen nicht kochen können?

Was über die Fernsehbilder in die deutschen Wohnzimmer übertragen wird, ist schlimm. In der Umgebung von Gonaïves ist die Situation noch viel katastrophaler, befürchtet Michael Jordan, der Leiter des Lateinamerikas-Büros der Diakonie Katastrophenhilfe. Noch immer sind Ortschaft von der Außenwelt abgeschnitten. Es werde wohl noch eine Tage dauern, bis man dort eine Bestandsaufnahme der Opfer und materiellen Schäden vornehmen könne. An diesem Wochenende haben erneute schwere Regenfälle die Flüsse sogar wieder anschwellen und den Wasserspiegel erneut steigen lassen. Das Ökosystem in Haiti ist so labil, dass jeder kleine Regensturm wieder Tod und Verderben bringen kann.

HANS-ULRICH DILLMANN