EU-GIPFEL: CHIRAC KANN DEUTSCHLAND NICHT REPRÄSENTIEREN
: Der Jacques ist nicht der Gerhard

Die deutsche und die französische Spitze haben gestern in Brüssel wieder einen ihrer Spezial-Coups gelandet. Nach dem Händchenhalten über den Erster-Weltkrieg-Gräbern von Verdun, nach Reden der Chefs vor dem jeweils anderen Parlament und nach einem mehrere Tage lang gefeierten 40. Geburtstag der offiziellen Freundschaft war dieses Mal ein Stellvertreterauftritt in Brüssel dran, wie ihn die EU noch nicht erlebt hat: Der französische Staatspräsident sprach nicht nur für seine eigenen Landsleute, sondern auch im Namen der Deutschen – stellvertretend für den wegen Sozialkahlschlags im Bundestag zurückgehaltenen Bundeskanzler. Er sprach als Gerhard Chirac.

Am Vorabend wichtiger europäischer Entscheidungen soll dieser Auftritt allen EU-Ländern signalisieren, dass Paris und Berlin notfalls ihr geballtes Gewicht in die Waagschale werfen, um sich durchzusetzen. Die EU-Freunde auf beiden Seiten des Rheins kommentieren diesen Auftritt als neuen Fortschritt im „deutsch-französischen Motor“ und als Zeichen besonders qualifizierter Beziehungen. Tatsächlich aber hat der französische Präsident nicht das Recht, im Namen der Deutschen zu sprechen. Die haben ihn nämlich nie gewählt und würden das vermutlich auch dann nicht tun, wenn sie dazu die Chance hätten. Denn Jacques Chirac ist ein typisches Produkt französischer Politik. Das gilt sowohl für die besonderen Umstände seiner Wahl – die legendären 82 Prozent, die er bekam, hat er ausschließlich der panischen Angst seiner Landsleute vor einem rechtsextremen Wahlsieg zu verdanken. Als auch für Chiracs politische Werteskala – darin ist der Staat stark und atomar bewaffnet, ist zentralistisch organisiert und strikt laizistisch.

Frankreichs Präsident kann weder stellvertretend für die deutsche Linke sprechen noch für die Christdemokraten, die bei Treffen mit ihren politischen Freunden in Frankreich regelmäßig über Fragen politischer Ethik aneinander geraten. Die politische Kultur der Länder auf beiden Seiten des Rheins unterscheidet sich nach wie vor um Lichtjahre. Der gestrige Auftritt von Gerhard Chirac war nichts weiter als ein Werbegag. DOROTHEA HAHN