Dunkle Kapitel

„Mordakte Hrant Dink“ (Arte, 23 Uhr), ein Film über Hass, Völkermord – und den Mord an einem Journalisten

Es sollte eine Dokumentation über Hass werden, über Vertreibung und Genozid. Und über einen Staat, der dazu bis heute schweigt. Das war jedenfalls der Plan der Filmemacher Simone Sitte und Osman Okkan, als sie 2006 in die Türkei und nach Armenien reisten, um das schwer belastete Verhältnis beider Nationen zu erforschen. Doch dann kam alles anders.

Während der Recherchen zum Film starb zunächst Simone Sitte nach schwerer Krankheit. Okkan musste allein weitermachen – und den Film plötzlich umstricken. Denn Anfang 2007 wurde einer der wichtigsten Protagonisten des Films, der Journalist Hrant Dink, in Istanbul ermordet. Erschossen von einem 17-Jährigen vor dem Gebäude, in dem die von Dink gegründete Wochenzeitung Agos sitzt, die seit 1996 türkeikritisch berichtet, gegen Diskriminierung eintritt und für einen Dialog zwischen Armeniern und Türken.

Der Mord an dem gebürtigen Armenier Dink löste eine Welle der Solidarität aus überall auf der Welt. Und es war klar, wovon die Doku nun handeln würde: immer noch von Hass, Vertreibung, Genozid. Vor allem aber von einem Mord, der noch heute Fragen aufwirft. Besonders jene, ob Dink wirklich von einer Bande Kleinkrimineller ermordet wurde – oder ob alles von langer Hand geplant war durch Bedienstete des türkischen Staates, dessen Machenschaften Dink stets angeprangert hatte.

„Mordakte Hrant Dink“ läuft heute Abend erstmals im Fernsehen und versucht die Hintergründe der Tat aufzudröseln, soweit das möglich ist. Vieles liegt im Dunkeln: Welche Rolle spielte etwa der nationalistische Geheimbund Ergenekon bei der Ermordung Dinks? Und wer wusste, dass der Journalist getötet werden sollte? Entstanden ist ein lehrreiches Stück, das neben der Ermordung Dinks auch das eigentliche Thema beleuchtet: die Vertreibung der Armenier aus Anatolien und den Völkermord um 1915, dem mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen. Und der schließlich auch Dink zum Verhängnis wurde.

Der nämlich hatte vehement von der Türkei gefordert, zumindest Stellung zu beziehen zu diesem Verbrechen; unermüdlich schrieb er gegen Missstände an, setzte sich für Menschenrechte ein. Doch während der kritische Journalist andernorts gelobt und ausgezeichnet wurde, etwa 2006 mit dem Henri-Nannen-Preis, verurteilte ihn der Staat wegen Verunglimpfung des Türkentums zu sechs Monaten Haft.

Für die Angehörigen, Freunde, Intellektuellen und Journalisten, die im Film zu Wort kommen, ist klar, dass Dink einem politisch motivierten Mord zum Opfer gefallen ist, dessen Planung bekannt war – den aber niemand verhinderte. Der Film klagt nicht an, Okkan und Sitte berichten sachlich. Und zeigen traurige Bilder: der charismatische Redner und Intellektuelle Dink, tot auf der Straße. Weinende, wütende Menschen. Und zerfallende Kirchen, Häuser, in denen einst die Armenier lebten.

Die wünschenswerteste Wirkung dieses Film wäre, dass er aufrüttelt und sich die Türkei bekennt zu ihrer Vergangenheit. Ein Anfang ist gemacht: Zu Dinks zweitem Todestag unterschrieben tausende Türken einen Text, in dem sie sich für die Verbrechen an den Armeniern entschuldigen. BORIS ROSENKRANZ