Prozente im Bierschaum

VON KLAUS JANSEN
UND MARTIN TEIGELER

Düsseldorf, 18.00 Uhr. Der Jubel in der Parteizentrale der NRW-CDU ist laut und kurz, bevor kollektives Schweigen ausbricht. In einem beengten Raum schwitzen Jugendliche mit CDU-T-Shirts, geschminkte junge Frauen und ein paar alte CDU-Politiker, während sie die Kommunalwahl-Prognosen auf kleinen Fernsehgeräten verfolgen. „Die CDU kommt landesweit auf 44,5 Prozent“, sagt die Moderatorin im Fernsehen und die rund 30 Christdemokraten klatschen und johlen. Dann verfliegt das Lachen von den Gesichtern, alle verstummen. CDU-Einbruch in Köln. Schwere Verluste in Essen und Dortmund. Der Jubel ist aus.

Düsseldorf, 18.07 Uhr. Ein CDU-Mitarbeiter bricht die Stille mit rhythmischem Klatschen. „Er kommt“, sagt er und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen wie ein Animateur. Gemeint ist Jürgen Rüttgers. Der CDU-Landesvorsitzende betritt den Raum, die Wahlparty-Gesellschaft jubelt wieder. „Das ist ein schöner Abend für die CDU“, sagt Rüttgers. Mit Rot-Grün werde es bei der Landtagswahl 2005 vorbei sein. Rüttgers sieht müde aus. Er hat rotgeränderte Augen. Er gibt noch ein paar Interviews, dann zieht er sich mit seinen Beratern zurück. Die Party-Gäste sind wieder allein, es wird erneut still. „Aber wir haben doch gewonnen?“, fragt eine ältere Dame mit Selters-Glas in der Hand ihren graumelierten Begleiter. Vor den TV-Monitoren steht Bernhard Worms. Bernhard Worms war in den 1980er Jahren einmal Spitzenkandidat der CDU-NRW – ohne Erfolg. Still und einsam verfolgt er die Ergebnisse – wie ein Verlierer.

Gelsenkirchen, 18.20 Uhr: Wolfgang Meckelburg zieht die schwere Holzschiebetür vor der Kommandozentrale in der Gelsenkirchener Markthalle zu. „Weg hier. Hier ist closed shop“, nuschelt der Bundestagsabgeordnete und Kreisvorsitzende der CDU Gelsenkirchen. In seinem Mundwinkel klemmt eine Zigarette, in der Hand hält er ein Wasserglas. Hinter dem kugeligen Politiker verschwinden Kabel in einem Türspalt. Dahinter starrt Gelsenkirchens CDU-Spitze auf einen leeren Bildschirm und erwartet das Wahlergebnis für die Stadt. Sie warten vergeblich: Serverabsturz. Die CDU ist nervös, sie will allein sein. „Wir haben hier die Favoritenrolle, das ist komisch“, hat der stellvertretende Kreisvorsitzende vorher gesagt. Nachdem Oliver Wittke, der junge Hoffnungsträger der NRW-CDU vor fünf Jahren das rote Gelsenkirchener Rathaus erobert hat, haben die Christdemokraten in Gelsenkirchen erstmals etwas zu verlieren. „Weg hier jetzt, dann lade ich sie auch auf ein Bier ein“, raunt jemand den wartenden Journalisten zu. Der Türspalt schließt sich ganz.

Düsseldorf, 18.35 Uhr. Obwohl die Sozialdemokraten ihr schlechtestes Kommunalwahl-Ergebnis in der Landesgeschichte eingefahren haben, ist Bier das beliebteste Getränk bei der Wahlparty der NRW-SPD. Generalsekretär Michael Groschek läuft aufgeregt mit einer Flasche Beck‘s in der Hand umher und lacht heiser bei jedem schlechten CDU-Wahlergebnis, das ihm seine Mitarbeiter ausgedruckt haben: „Hahahahaha“. Landeschef Harald Schartau schlendert durch die Räumlichkeiten der SPD-Parteizentrale. Aus dem Ruhrgebiet bekommen die Genossen erfreuliche Handy-Anrufe. Schartau schaltet sein Mobiltelefon wieder aus und sagt: „Dortmund macht Spaß!“ SPD-Fraktionschef Edgar Moron steht neben dem kalten Buffet. Als sich CDU-Mann Rüttgers im Fernsehen erneut als Wahlsieger verkauft, stellt Moron sein Bierglas zur Seite und freut sich diebisch: „Die CDU wird jetzt große Probleme bekommen.“

Dortmund, 19.00 Uhr. Dortmunds Oberbürgermeister Gerhard Langemeyer schaut angespannt in die Fernsehkamera. „Die SPD ist Sieger dieser Partei“, haspelt er ins Mikrofon. Was er sagen will: Die SPD hat in Dortmund gut abgeschnitten, die CDU katastrophal. Doch noch ist nicht klar, ob Langemeyer in eine Stichwahl muss.

Düsseldorf, 19.00 Uhr. Wahlparty des grünen Landesverbands im Café „Uferlos“ an der Rheinpromenade. Die Hochrechnungen stehen bei 9,4 Prozent – dabei hatten die Vorsitzenden Britta Haßelmann und Frithjof Schmidt als Wahlziel mindestens „Zweistelligkeit“ ausgemacht. Immer wieder wird Schmidt von Journalisten nach dem „verfehlten Wahlziel“ gefragt. Hinweise Gutmeinender, die 10-Prozent-Hürde könne doch noch geknackt werden, quittieren alle mit einem mitleidigen Lächeln.

Gelsenkirchen, 19.15 Uhr. Die blauen Luftballons hängen schlapp von den Wänden, die Gäste der CDU-Wahlparty klammern sich an ihre Stehtische. Wolfgang Meckelburg greift zum Mikrofon: „Wir projizieren jetzt mal das Ergebnis an die Wand,“ kündigt er an. Auf einer milchigen Leinwand erscheinen rote und schwarze Balken – sie sind etwa gleich lang. Oliver Wittke liegt nicht einmal zwei Prozent vor seinem Herausforderer Frank Baranowski. Stichwahl. Eine Enttäuschung. Im Rat hat die CDU 6,5 Prozent verloren. Ein Debakel. „Sie sehen ja selbst: Es ist, wie es ist“, sagt Wolfgang Meckelburg mit buddhistischem Gleichmut. Der Saal schweigt und wartet auf Oliver Wittke. Aus den Lautsprechern tönt „I got to keep on movin“.

Düsseldorf, 19.20 Uhr. Die FDP feiert im „Marcel‘s“, Tür an Tür mit den Grünen. Kein cooles Designer-Ambiente, sondern Stil der „Belle Epoque“. Viel Tropenholz, viel Messing, viel Bier – und trotzdem lange Gesichter. Die Liberalen sorgen die Verluste der CDU – der Regierungswechsel in NRW soll nicht wieder auf der Zielgeraden verloren gehen.

Düsseldorf, 19.30 Uhr. Innenminister Fritz Behrens ist bei der SPD erschienen. Mit bierernstem Gesichtsausdruck sieht er auf der Videowand zu, wie Düsseldorfs CDU-Oberbürgermeister Joachim Erwin nach seinem großen Wahlsieg auf dem Rathaustisch steht. Erwin zeigt das doppelte Victory-Zeichen des Gewinners. Behrens wendet sich ab. Renate Drewke, SPD-Regierungspräsidentin von Arnsberg, zieht nervös an ihrer Zigarette. Gemeinsam mit Parteimanager Groschek wartet sie auf das Wahlergebnis aus Gelsenkirchen. „Die haben da einen Computer-Absturz. Typisch“, lästert Groschek. Dann spuckt der Computer das Resultat aus: CDU-Star Wittke muss in die Stichwahl. Groschek klopft Schartau auf die Schultern und singt ironisch ein altes Arbeiterkampflied: „Dem Morgenrot entgegen....“

Gelsenkirchen, 19.40 Uhr. Georg Oberkötter streift durch den Saal. Der Pressesprecher der Stadt Gelsenkirchen, Spin Doctor und persönlicher Adlatus von Oliver Wittke, sondiert die Lage. Mit ihm hat sich Wittke nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses eine Stunde lang eingeschlossen – nicht mit seiner Partei. Dreißig Sekunden nachdem Oberkötter seinen Stimmungs-Test beendet hat, betritt Oliver Wittke den Saal. Besser: Er stürmt durch die Markthalle, schleift seine Frau am Arm hinter sich her. Wittke setzt einen Kontrapunkt zum schlappen Auftritt seiner Partei. Als man ihm das Mikrofon reicht, brüllt er fast: „Lasst nicht nach!“ Und: „Ich bin hoch motiviert für die Stichwahl, morgen früh um acht lege ich los!“ Der Applaus ist müde. Die CDU auch. Oliver Wittke wird sie wecken müssen in den kommenden zwei Wochen.

Düsseldorf, 19.50 Uhr. Die Grünen im „Uferlos“ jubeln. Pünktlich zur Tagesschau liegt die Partei bei 10,1 Prozent. „Das ist ein Rekordergebnis in NRW“, verkündet Parteichef Schmidt plangemäß. „Hab‘ ich doch immer gesagt“, sagt Britta Haßelmann. Nebenan im „Marcel‘s“ verlässt Landesparteichef Andreas Pinkwart als letzter führender Liberaler die eigene „Party“. Der Bundesvorsitzende Guido Westerwelle war wie NRW-Fraktionschef Ingo Wolff schon früher geflohen.

Gelsenkirchen, 20.15 Uhr. Ein schwitzender Junge mit dunklem Sakko und blauem Hemd sitzt auf der kalten Bordsteinkante und trinkt eine Flasche Becks. Er hat Tränen in den Augen. „Ich könnte heulen“, sagt er. Müsste er gar nicht: Christian Knippschild, der Vize der Jungen Union in Gelsenkirchen, ist in die Bezirksvertretung Gelsenkirchen-West eingezogen. Doch dort wird, wie auch in allen anderen Wahlbezirken, die SPD den Bezirksvorsteher stellen. „Das war ein Scheiß-Wahlkampf“, sagt Knippschild. „Wir müssen uns überlegen, warum wir alles so auf den Oli zugeschnitten haben.“

Gelsenkirchen, 20.20 Uhr. Im Rathaus von Buer stürmt Frank Baranowski mit dreißig quietsch vergnügten Genossen den Saal Cottbus – vorne steht ein Videobeamer und wirft immer neue Zahlen an die Wand. Direkt dahinter sitzt Wittke mit Ehefrau und erwartet das Endergebnis. Die Kontrahenten begrüßen sich nur fürs Fernsehen. Die Zaungäste im Saal raunen: Die Statements der Kandidaten hört nur der Lokalzeitzuschauer.

Düsseldorf, 20.45 Uhr. Die Grünen stürmen die SPD-Parteizentrale. Den Anfang macht Umweltministerin Bärbel Höhn. Im grünen Blazer erscheint sie bei den Genossen. Generalsekretär Groschek begrüßt den ungeladenen Gast hocherfreut. „Wir sollten uns gegenseitig gratulieren“, feixt er und posiert mit Höhn für die Fotografen. Nur Parteichef Schartau wundert sich: „Was will die denn hier?“ Aber das grüne Rollkommando ist nicht mehr aufzuhalten. Wenige Minuten später trifft Michael Vesper mit seiner Entourage ein. Auf den grünen Kulturminister folgt SPD-Ministerpräsident Peer Steinbrück. Und so stehen sie nun an einem Plastik-Stehtisch zusammen: das halbe NRW-Kabinett. Man lacht, gratuliert per Handschlag und stößt sich gut gelaunt an. „Rot-Grün hat zusammen gewonnen, Schwarz-gelb hat verloren“, interpretiert Höhn lachend das Wahlergebnis. Es wird Rot- und Weißwein gereicht. „Lassen sie gleich die Flaschen hier“, prollt Vesper dem Kellner zu. Peer Steinbrück steckt sich ein Zigarillo an und pafft – wie ein Sieger.

Dortmund, 21.15 Uhr. Das Achteck in mitten der Eingangshalle des Dortmunder Rathauses ist von knapp 200 Sozialdemokraten besetzt. Die kleinen Grüppchen von CDU und Grünen sind Zaungäste, ihre Stände sind auf den Wandelgang im ersten Stock verbannt. Gerhard Langemeyers Anspannung ist Selbstzufriedenheit gewichen. „Wahlkampf lohnt sich. Unsere Strategie des Strukturwandels hat sich gelohnt. Rot pur war die richtige Strategie“, stanzt er los. Dortmund ist wieder SPD-Hochburg.

Dortmund, 21.30 Uhr. Daniela Schneckenburger, OB-Kandidatin der Grünen, trägt ein Armband aus dicken grünen Glasblumen. Dicke Kajalstriche verstärken die Ringe unter ihren Augen. „Ich bin froh, dass der Wahlkampf vorbei ist“, sagt sie. Im März wurde sie von Langemeyer aus der Koalition gedrängt, nun bietet sie sich bereitwillig als Koalitionspartnerin an. „Rechnerisch reicht es für Rot-Grün, und ich will nicht nachkarten.“ Am anderen Ende des Saals wird die kleine Tochter des unterlegenen CDU-Kandidaten Frank Hengstenberg gefragt, ob sie „traurig ist wegen Papa“. „Nee“, ist die brave Antwort. Frank Hengstenberg will weiter kämpfen, an den Erfolg glaubt er aber nicht mehr. „Strukturen ändern sich nicht innerhalb von fünf Jahren“, sagt er. Im stickigen Rathauscafé betrinken sich bierselige Sozialdemokraten. Wie damals, im Ruhrgebiet. Wie früher.