Gekratze mit der Dummy-Platte

Das Computerprogramm „Finalscratch“ erleichtert DJs die Arbeit und schont ihren Rücken. Manche glauben sogar, es werde die gute alte Schallplatte endgültig überflüssig machen und den Musikmarkt revolutionieren. Aber wer freut sich nicht über neue Technik-Spielereien, die sogar funktionieren?

VON ALEX SCHÜTZ

Die Probleme mit der Schulter werden von Tag zu Tag besser. Links rum eine Tasche, rechts rum eine Tasche, zweimal achtzig Platten drin, das macht gut einen Zentner Gewicht. Wenn man jeden zweiten Tag so rumläuft – und sei es nur vom Taxi zum Flughafen und vom Hotel zum Taxi –, führt das auf Dauer zu fiesen Schulter- und Rückenschmerzen. „Aber diese Zeiten sind jetzt vorbei“, sagt Thomas Burchia, besser bekannt als DJ Thomilla und noch besser bekannt als Teil des DJ-Teams Turntablerocker. Der Musikproduzent und DJ hat ein Wundermittel gegen seine Wehwehchen gefunden. Die lang ersehnte Rettung vor Hexenschuss und Bandscheibenvorfall nennt sich G4 und wiegt knappe drei Kilogramm.

Hinter der Kombination G4 verbirgt sich ein Notebook, ein tragbarer Computer aus dem Hause Apple. Zusammen mit einem Computerprogramm „Finalscratch“ lässt sich alles, was man bisher mit herkömmlichen Schallplatten machen konnte, mit nur noch zwei Schallplatten machen – und diese zwei Schallplatten sind nicht mal richtige Schallplatten. Doch der Reihe nach: Auf der Festplatte des Notebooks sind digital alle Musikstücke abgespeichert, die ein DJ spielen wird. Je nach Speicherkapazität haben auf der Festplatte fünfhundert bis tausend Titel Platz. Der Rechner ist mit zwei Plattenspielern verbunden und auf denen drehen sich, ganz normal, zwei Platten. Dabei handelt es sich um Dummy-Platten, auf denen keine Musik abgespeichert ist, sondern nur ein Zeitcode, der in den angeschlossenen Computer eingespeist wird.

Adieu, Schallplatte?

Finalscratch gleicht nun die Umdrehungen auf dem Plattenteller mit den digitalen Musikstücken auf der Festplatte ab. Dreht ein DJ die Platte plötzlich rückwärts, rechnet das Programm diesen Prozess digital durch – und das Ganze hört sich dann an, als ob die Platte gerade rückwärts gedreht werden würde. Die Verzögerung durch die Rechenprozesse beträgt zehn Tausendstel Sekunden – und ist damit nicht hörbar. Scratchen ist somit auch mit G4 in Echtzeit möglich.

„Das ist die unglaublichste Neuerung, die es in diesem Bereich je gab“, schwärmt der Berliner DJ Paul van Dyk, der innerhalb einer Woche schon mal auf fünf Kontinenten auftritt, was daran liegt, dass er Deutschlands erfolgreichster und am häufigsten gebuchter Plattenaufleger ist. Er schwört aber nicht nur auf die Handlichkeit, die es ihm erlaubt, inzwischen ohne schwere Plattenkoffer durch die Welt zu fliegen. „Als DJ kannst du mit Finalscratch völlig neue Sachen kreieren“, sagt er. Und lange Zeit mussten die Songs, die der DJ dann bei seinen Auftritten hinter- und ineinander mischt, rückwärts oder schneller laufen lässt usw., auf Vinyl gepresst sein, damit sie mit der Nadel bearbeitet werden konnten.

„Diese Zeiten sind vorbei“, sagt Paul van Dyk. Nun sei es egal, ob ein Song auf CD oder als Datei vorliege – durch das Computerprogramm und die Verbindung mit den Plattenspielern könne er jeden Tonträger wie eine Vinylscheibe behandeln. Was nach wie vor als Platte existiere, werde kurz digitalisiert. „Die Platte ziehe ich zu Hause einmal aus dem Schrank, digitalisiere sie und stelle sie zurück ins Regal“, freut sich DJ Thomilla.

Glaubt man den G4-Begeisterten, sieht es mittelfristig so aus, als könnte die Schallplatte endgültig aussterben. Denn bisher gab es noch zwei letzte Bastionen des Vinyls: Die DJ-Szene, für die ein internationales Netzwerk aus kleinen Independentfirmen eine nicht abreißende Flut an Neuerscheinungen produziert – und HiFi-Spezialisten, die für einen Plattenspieler mehr Geld als für ein neues Mittelklasseauto ausgeben.

„Aber wieso so umständlich“, fragt Paul van Dyk. Er geht davon aus, dass die Songs von den Plattenfirmen künftig digital per E-Mail geliefert werden. Die Schallplatte sei dann „nur noch was für Puristen und Freaks – und ich glaube nicht, dass die Musikindustrie da noch lange mitmacht. Bei uns DJs war das noch anders, wir sind ja unglaubliche Multiplikatoren“.

Paul van Dyks Berliner Kollege DJ Dixon indes sieht den Hype um Finalscratch deutlich gelassener. „Was die Musikindustrie denkt, spielt doch in unserer Szene schon lange keine Rolle mehr“, erzählt der international gefeierte House-DJ. „Die allermeisten relevanten Lables im House und Technobereich produzieren doch ausschließlich für DJs. Das ist ein Nischenmarkt für Vinyl, der schon lange ganz anderen Gesetzten gehorcht. Und das äußerst erfolgreich.“ Außerdem gibt er zu bedenken, dass bisher kein neues Medium die für DJs bewährte Kombination Plattenspieler plus Vinyl verdrängt hätte. „Das Gleiche wurde auch prophezeit, als CD-Player auf den Markt kamen, mit denen man mixen konnte. Zu behaupten, Finalscratch wäre das Ende der Schallplatte, ist genauso dumm wie die längst überwundene Angst, das Internet könne das Buch verdrängen.“ Es werde eher so sein, dass auch in den Clubs verschiedene Medien nebeneinander existieren. „Ganz im Ernst: Auch die paar DJs hierzulande, die auf Finalscratch schwören, haben immer Schallplatten dabei. Schon allein aus Zeitgründen. Wer sich Donnerstags zwanzig neue Maxis kauft, hat meistens nicht die Zeit, sie bis zum Wochenende in den Computer zu überspielen.“

Trotzdem hat sich das ursprünglich von drei Holländern entwickelte Programm innerhalb der vergangenen zwölf Monate rasant verbreitet. Dass die meisten DJs männlich sind, könnte die Sache beschleunigt haben: Wer freut sich da nicht über neues technisches Spielzeug, das sogar funktioniert.

„Die Verkaufskurve geht seit Monaten steil nach oben“, sagt Spyros Pappas, der bei der Firma Korg & More für den deutschen Vertrieb zuständig ist. Zwischen 600 und 800 Euro kostet das Programm, das inzwischen in Deutschland hergestellt wird.

Bonjour, Plattenspieler!

„Durchsetzen konnte sich Finalscratch aber erst, als wir eine stabile Plattform hatten“, sagt Pappas mit einem Seitenhieb gegen Microsoft. Denn ursprünglich wurde das Programm für deren Betriebssystem Windows entwickelt. Doch weil die Windows-Version immer wieder abstürzte, hatte Finalscratch bei den Profis keine Chance. Erst mit der Version für Macintosh setzte der Erfolg ein“, erinnert sich Pappas.

Das Betriebssystem von Apple gilt als äußerst zuverlässig – und das Programm selbst wird ausgefuchster. Bei der aktuellen Version 1.5 etwa gibt es eine Tonhöhenkorrektur, durch die sich die Geschwindigkeit einer Platte erhöhen lässt, ohne dass dadurch die Stimme nach Micky Maus klingt.

„Faszinierend, was man damit machen kann“, schwärmt Jean-Christoph Ritter, Rapper der Massiven Töne und im Nebenberuf Club-DJ. Und Vertriebsmann Spyros Pappas glaubt: „Das wird den Markt völlig revolutionieren.“ Er muss das natürlich sagen, weil er das Programm verkaufen will. Dann sagt er noch folgenden Satz: „Es wird alles digital, aber man kann sein analoges Interface weiter benutzen.“ Übersetzt hieße das: Schallplatten sterben aus, nur Plattenspieler haben eine Zukunft.

Eine Technik ganz ohne Macken? Nicht ganz. DJ Thomilla erinnert sich mit Schrecken an einen Auftritt der Turntablerocker in Tübingen, als ihnen der Computer derart Probleme machte, dass die Menschen auf der Tanzfläche bereits anfingen, zu pfeifen – bis ihnen jemand eine herkömmliche Schallplatte in die Hand drückte. Damit konnten sie die Zeit überbrücken, bis der G4 wieder hochgefahren war. „Trotzdem werden wir weiterhin mit dem G4 auflegen“, sagt Thomilla, „alleine schon wegen meiner Schulter.“