ZU WENIG ABSOLVENTEN: BILDUNGSPOLITIK BRAUCHT SYSTEMWECHSEL
: Girls’ Days reichen nicht

Die Bildungsministerin macht’s, die Industrie macht’s, die Hochschulen finden es ohnehin wichtig. Mit Aktionen wie „Girls 4 Engineers!“ wollen sie Frauen in die unattraktiven Studien der Mathematik, Naturwissenschaften oder Ingenieurswissenschaften locken. Es ist wirklich rührend, was alles veranstaltet wird, um die Studierendenzahlen allgemein und die in der Technik im Besonderen zu steigern. Eltern müssen sich erzählen lassen, wie wichtig frühe Bastelarbeiten oder Probefahrten auf Märklin HO für den Lebensweg einer Ingenieurin sein können. Es wimmelt nur so von Preisen Marke Women’s Special. Die Frage ist bloß: Was bringt’s?

Klar, es gibt Erfolgsmeldungen. Was die Propagandistinnen der Steigerung von Akademikerzahlen durch Feminisierung gerne verschweigen: Die Studierneigung insgesamt zieht nur so stark an, dass wir das alterungsbedingte Ausscheiden von Hochqualifizierten gerade ausgleichen können. Das überkandidelte Marketing aber und die schönfärberische Pressearbeit verweisen auf ein Dilemma. Eine Industrienation wie Deutschland, mehr noch eine Wissensgesellschaft, kann ihren Qualifikationsbedarf nicht mit Hochglanzflyern oder dem forcierten Anwerben von Frauen decken. Mit dieser Kuschelstrategie geht es in der Bildungspolitik nicht weiter. Es braucht andere Maßnahmen.

Und das wissen auch alle. Die empirische Auftragswissenschaft von HIS bis zum Berufsforschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit genauso wie die soziologischen Großtheoretiker wie Dahrendorf, Beck oder Giddens: Bildung ist der Rohstoff für die Zukunft moderner Gesellschaften. Das deutsche Bildungssystem freilich ist weder quantitativ noch qualitativ imstande, ausreichend intellektuellen Nachschub hervorzubringen.

Es braucht einen Systemwechsel, und die Instrumente dafür sind bekannt. Kurzfristig ist es notwendig, aus dem eigenen Berufsbildungssystem wie aus dem Ausland Hi-Potentials an die Hochschulen zu holen – und das, bitte schön, nicht in Promilleanteilen. Und mittelfristig muss es darum gehen, die Begabungsreserven in Kindergärten und Schulen nicht weiter zu verschütten, sondern sie im Gegenteil zu mobilisieren. Sprich: Aufzuhören mit der Diskriminierung bildungsferner Schichten, also endlich eine längere, auslesefreie Schulzeit für alle möglich zu machen. Niemand wird bestreiten, dass dies, nach dem Kulturkampf um die Gesamtschule in den 70ern, eine für Deutschland schwierige Entscheidung wird. Aber es gibt keine andere Wahl. Wer nicht will, dass der demografische Schwund unser Qualifikationspotenzial weiter dezimiert, der sollte sich dieser Frage alsbald stellen. CHRISTIAN FÜLLER