Melanie und der Tiger

aus Bielefeld REINHARD KRAUSE

Nur Sekunden braucht Rudi Leist beim Soundcheck am Nachmittag, um letzte Zweifel zu zerstreuen. Hochkonzentriert hat der Sänger und charismatische Frontmann der Band Die Combo aus Offenbach gewartet, bis die Instrumente seiner vier Begleitmusiker ausgepegelt sind. Dann ein auffordernder Blick zu Schlagzeuger Farrid Faust, und durch die Halle fegt ein Orkan. Gestaute, ungefilterte Energie bricht aus dem kleinen 46-Jährigen. Wer sich bis zu diesem Moment womöglich noch bedenkenträgerisch gefragt hat, ob ein internationaler Gesangswettbewerb für geistig Behinderte wirklich eine gelungene Idee ist, muss in diesem Augenblick erkennen, dass hier eine Begabung auf der Bühne steht.

Begabung? Ein Tier! Denn sage niemand, so dürfe man einen Behinderten nicht nennen. Rudi Leist ist auf der Bühne ein Tier. Ohne jeden Behindertenbonus: Neben ihm wirkt „Tiger“ Tom Jones wie ein Salonlöwe. Und wer war doch gleich Tom Waits? Rauer klang selten eine Stimme. Brüllen, Bellen, dann, in den lyrischeren Passagen wunderbar gebändigt, ein Wechsel in höhere Register. Unfassbar.

Vom Text des Songs „Blues and Rock out“ ist zwar keine einzige Silbe zu verstehen. War das Deutsch oder Englisch oder reine Lautmalerei? Völlig unwichtig. Beim Blues geht es ums Gefühl, und dies hier ist ein meisterlicher Blues. Dann ein abrupter Rhythmuswechsel, und Leist dröhnt, nun doch deutlich vernehmbar: „Ich bin Rudi! Ich bin Rudi!“ Eine Botschaft, die sofort ankommt. Selbst Unbeteiligte stecken verblüfft ihre Köpfe in den Saal, um zu sehen, wer denn da so entfesselt rockt.

Es ist Donnerstagabend in Bielefeld. Die Stadthalle ist ausverkauft. Das Evangelische Johanneswerk hat das fünfte Europäische Songfestival für Menschen mit geistiger Behinderung veranstaltet, es wird erstmals in Deutschland ausgetragen. In der Jury sitzen unter anderem Mary Roos, Corinna May und Stumpen, der Sänger von Knorkator, sowie Jürgen Meier-Beer, Unterhaltungschef des NDR und in dieser Funktion zuständig für die Organisation des Original-Grand-Prix. Die Moderation hat die Grand-Prix-Legende Guildo Horn übernommen. „Ich weiß auch nicht, wie ich zu der Ehre, heute Abend hier zu sein, gekommen bin“, sagt er, „denn ich bin ganz schlecht in Fremdsprachen.“

Nach welchen Kriterien soll eine Jury die musikalische Leistung geistig behinderter Menschen bewerten? Einzig nach der Emotionalität des Vortrags, nicht nach Rührung oder gar Mitleid. Nach der Hingabe. Wie in jedem anderen Gesangswettbewerb.

Den Abend eröffnen die Troubadours de la joie aus Frankreich, die Troubadoure der Freude. Bereits der Name der altersmäßig sehr gemischten A-cappella-Gruppe lässt starken Einfluss der Betreuer vermuten. Und tatsächlich erweist sich das Chanson über das „Café d’Henri“ als zu brav und zu sehr um Disziplin bemüht für die durchgängig freudigere Konkurrenz. In scharfem Kontrast hierzu beweist danach die Gruppe Color aus Ungarn mit einem Feuerzeugsong, der sich zu einer souveränen Rocknummer wandelt, dass es sich bei dieser Veranstaltung auszahlt, mit einer dominanten Rhythmussektion an den Start zu gehen. Die polnische Gruppe Gamma bietet danach eine gemütliche Jukeboxnummer über die Einsamkeit eines Cowboys – die drei Musiker adäquat, aber vielleicht eine Spur zu kindlich in Baumfällerhemden und gefranste Jeanswesten gekleidet. Die beiden Backgroundsängerinnen mit der Anmutung sehr freundlicher Country-Politessen absolvieren zusätzlich eine nicht ganz unkomplizierte Choreografie.

Celia Monteiro aus Portugal, im Programmheft forsch als „immer fröhlich und humorvoll“ angekündigt, ist der Pechvogel des Abends. Ihre selbst getextete Ballade „Um mundo melhor“ („Eine bessere Welt“), die sie bei den Proben noch souverän gemeistert hatte, singt sie durchgängig einen Halbton zu hoch und sorgt so für den meistdiskutierten Beitrag der Veranstaltung: Darf man sich an einer technisch missglückten Darbietung stören? Die Jury jedenfalls spendet aufmunterndes Lob.

Verblüffend professionell anschließend die Vertreterin Finnlands, Kirsi Hartikainen, mit einer Walzerversion von „Que sera“ und dem elegantesten Kleid des Abends aus weinroter Seide mit einer stilisierten Wellenapplikation. Überhaupt die Kleidung: Kaum jemand von den etwa 100 TeilnehmerInnen ist auf eine Art gekleidet, die den altmodischen Geschmack der Eltern durchscheinen lässt.

„Und jetzt“, kündigt Guildo Horn den deutschen Beitrag an, „kommt der Moment, wo Jumbo das Wasser lässt.“ Vom ersten Ton an hat Rudi Leist das Publikum im Griff – auch die angereisten Fans aus den Nachbarländern können sich der animalischen Verve seines Blues nicht lange entziehen. Fast alle Zuschauer springen von den Stühlen auf. Dann die Steigerung zum zweiten Teil des Songs, „Ich bin Rudi! Ich bin Rudi!“

Dazu der laszive Hüftschwung des Sängers und Drummer Farrid Faust in Topform. Besser kann es nicht laufen für Die Combo. Anders als etliche andere Titel kommt der deutsche Beitrag mit nur einem nichtbehinderten Teilnehmer aus: Jürgen Weiss an den Keyboards. Das Auffallendste an diesem Beitrag: zu merken, wie ein Sänger, der sich sprachlich nur mühsam artikulieren kann, auf der Bühne uneingeschränkt brilliert.

Nach einer Pause geht es mit experimentellen Sounds weiter. Die belgische Sängerin Yvonne de Brouwere, mit 57 Jahren die älteste Teilnehmerin, singt einen bisweilen an Sklavengesänge erinnernden Song namens „Vis“ (Fisch), begleitet von Weingläserklängen und einer Wasserschöpferin als Percussionistin. Einer der seltenen stilleren Momente an diesem Abend. Traditioneller danach der 21 Jahre alte Ivar Merila aus Estland mit einem Song aus dem Pinocchio-Musical „Burattino“, begleitet von zwei recht streng blickenden nichtbehinderten Musikerinnen. Die Drummers of Benjamin aus Tschechien bieten anschließend gleich zwei Songs, eine reine Percussionsnummer und einen gitarrengestützten Gesang – und im Saal Anlass zur Frage, wie stark von Betreuern bestimmt ein Song sein darf, um Siegchancen zu haben.

Die TeilnehmerInnen aus Dänemark und Österreich, die Gruppen „Pop and Company“ und „Anklang“, präsentieren sich als Partybands, Erstere im karibischen und sehr lauten Steelbandsound, die Musiker aus der Steiermark mit einer mundartlichen Neufasssung von „Don’t worry, be happy“: „Net ärgern, nur lachen.“ Ein Titel, der auch als Motto taugen konnte, als Bielefelds Oberbürgermeister Eberhard David (CDU) als Jurymitglied drei der Musiker besonders lobt – zwei davon sind Nichtbehinderte.

Alles deutet auf einen leichten Sieg für Deutschland hin, doch kurz vor Ende des Wettbewerbs erwächst der Combo schließlich doch noch harte Konkurrenz: Melanie Vorselman, 27 Jahre alt, für die Niederlande am Start, geht ein hohes Wagnis ein, indem sie ausgerechnet einen Song von Céline Dion gewählt hat – und dem Vergleich absolut standhält. Mehr noch: Was bei Céline Dion stets ein wenig zu kalt klingt, hier hat es Seele und Feuer. Auch in Mimik, Gestik und Dynamik ein mitreißender Beitrag, der nicht nur die Jury zu Standing Ovations hinreißt. Und auch beim Original-Grand-Prix hätte er beste Chancen, das Erfolgskonto der Niederländer aufzubessern.

Rudi Leist, der am Nachmittag noch Reporterfragen, ob er denn gewinnen werde, mit einem schlichten Ja! beantwortet hat, muss bangen. Wird er über die hinreißende Sängerin triumphieren können? Die Jury zieht sich zu einer langen Beratung zurück. Schließlich: Es gibt in diesem Jahr zwei Sieger, Deutschland und die Niederlande. Nun muss zwar ein Siegerpokal nachgefertigt werden, dafür feiert das Publikum die gerechte Lösung. Und kommt darüber hinaus in den Genuss, gleich beide fulminante Höhepunkte des Abends noch einmal zu erleben. Etlichen der unterlegenen KandidatInnen ist die Enttäuschung deutlich anzusehen.

Die Entscheidung, sagt der NDR-Experte Jürgen Meier-Beer nach dem Ende des Festivals, sei schwierig gewesen, aber in der Jury habe Einigkeit bestanden über die Pattsituation: „Der deutsche Titel war Ausdruck eines ganz besonders beeindruckenden Umgangs mit der Behinderung. Hier wurde ganz intellektuell ungebremst ursprüngliche Lebensfreude musikalisch umgesetzt. Der niederländische Titel war musikalisch nach konventionellen Maßstäben sehr beeindruckend und gleichzeitig auch viel energiegeladener vorgetragen, als man das bei den ,Superstar‘-Sendungen je erleben kann.“

Einen Vorteil dieses Musikwettbewerbs gegenüber ähnlichen öffentlichen Veranstaltungen formuliert Moderator Guildo Horn: „Der Gewinner des heutigen Abends muss nicht von Dieter Bohlen produziert werden!“