Leicht unterkühlt

Das SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Warum alles auf die Polen schieben? Auch in Berlin kroch Armut neben dem Flaneur, der nicht runtersah

Vielleicht ist es nur eine Frage des Abstands. Und plötzlich wird alles einfach, klar und ganz leicht. Der größtmögliche Abstand ist der des Todes.

In der letzten Woche hatte am Deutschen Theater in Berlin Heiner Müllers „Germania“ Premiere. Das ist gar kein Stück, das ist kein Theater, das ist deutsche Geschichte pur. Nachher wusste man: Unter dem ist die Vergangenheit nicht zu haben. Darunter und daneben beginnt das Geschwätz. Bernd Eichingers Kino-„Untergang“ zu benörgeln gehört inzwischen zum guten Kritiker-Ton, aber es ist viel schlimmer. Wer Müllers Fassung der letzten Tage im Führerbunker angesehen hat, mit denselben Originaltexten, allerdings mit einem hochschwangeren, bald entbindenden Führer, der weiß augenblicklich: Neben diesem minimalistischen, absurden und surrealen Kammerspiel ist „Der Untergang“ nichts als ein weiteres Kinoepos zu viel in dieser Welt.

Genau so, wie der Bulgare Dimiter Gotscheff inszeniert hat, muss man Müller inszenieren. Oder besser: muss man Geschichte inszenieren. Das Müller-Universum ist voller Blut, Schweiß und Schößen – ein Idiot, wer das zeigen wollte. Müller ist Denk-Theater oder es ist nicht. Man wusste das alles vorher und wäre doch beinahe vom Stuhl gefallen vor Überraschung.

Solche „Das ist es!“-Augenblicke sind selten geworden. Und sehr relativ sind sie außerdem. Wie viele trugen genau entgegengesetzte „Das ist es doch nun wohl nicht“-Premieren-Gesichter. Genauer: „Das kann es gar nicht sein!“-Gesichter. Sie konnten das auch begründen. Das Müller’sche Geschichtspathos befremdete sie, dieser Ernst auf dem Theater trotz des Lachens. Man sei ein westlich-moderner Mensch und besitze deshalb, im Gegensatz zu Heiner Müller, ein eher ironisches Weltverhältnis. Aber war Müller denn nicht der größte aller Ironiker? Und wie versteht man eine Ironie, die als Grundlage nicht den Ernst hat?

Trotzdem haben die Befremdeten Recht. Denn sie haben den Tod gespürt. Noch nie wurde das so deutlich wie an diesem Abend: Müllers Theater kommt direkt aus dem Grab. Jemand, der noch lebt, registriert eine leichte Unterkühlung. Und wehrt sich. Komischerweise ist das Grab der einzige wirklich intelligente Aussichtspunkt – soweit man Historiker ist. Denn es ist die Position des größtmöglichen Abstands.

Ein Germanist aus Freiburg hat kürzlich vorgeschlagen, die Goethe-Institute umzubenennen, da Herr von Goethe die Menschenrechte verletzt habe. Er hätte als Geheimer Rat eine Weimarer Kindsmörderin retten können. Er hat es nicht getan. Wolfgang von Goethe als Menschenrechtsverletzer. Man sollte mal über den Zusammenhang von zeitgenössischem Bewusstsein und Hirnerweichung nachdenken. Die Tatsache, dass die Geschichte eine einzige große Menschenrechtsverletzung ist – und es auch immer bleiben wird –, passt nicht mehr in unseren avancierten Weltbegriff. Werden wir, je zivilisierter wir werden, desto dümmer?

Die mecklenburgischen Bauern haben die Köhler’schen „regionalen Unterschiede“ sofort eingesehen. Dass in Mecklenburg die Welt hundert Jahre später untergeht, wussten sie immer schon. Der Bundespräsident hat dem Alltagsverstand bestätigt, was dieser längst ahnte. Unser beinahe mythisches Bewusstsein von dem, was immer so war und immer so sein wird, ist reaktiviert.

Das eigentliche Phänomen aber hat Köhler und haben mit ihm die meisten Kommentatoren verpasst: Was man „Gleichheit“ nennt, ist gar kein Überbleibsel, ist nicht der allerälteste Zopf des Kollektivismus. Es ist das historisch ganz und gar Außergewöhnliche, das zivilisatorisch Einzigartige. Wird es Zeit für einen Nachruf auf die Gleichheit als wahre Ermöglicherin der Ungleichheit?

Geschichtlich normal ist die Ungleichheit, sind die extremsten regionalen Unterschiede. Eine Stadt ist eine Region. Oder eine Straße. Oder zwei Häuser. Anfang des 19. Jahrhunderts standen in Warschau die üppigsten, fünfstöckigen, goldprunkenden Adelspaläste Wand an Wand mit den allerärmsten Bretter-Hütten. Und niemand fand das merkwürdig. Wohlgemerkt: Hier soll nicht der alte polnische Adel denunziert werden; es geht um die Feststellung der Normalität. Die Unnormalen sind wir mit unserem Gleichheitssinn. Aber warum alles auf die Polen schieben? Auch in Berlin kroch die bitterste Armut direkt neben dem Flaneur, und der sah nicht einmal runter. Ein Berlin-Besucher von 1793 fand die Stadt so vor: „Hier bin ich denn nun angekommen (…) in der großen Stadt Berlin, diesem Schauplatz menschlicher Pracht und menschlichen Elends, diesem Vereinigungspunkt, wo äußerster Reichtum und äußerste Armut durcheinander und nebeneinander sichtlich sind (…).“ Es ist eine sehr späte besondere Feinfühligkeit des Wohlstands, sich vom Elend räumlich zu distanzieren.

Das eigentliche Problem besteht darin, dass es fast unmöglich ist, in dieses geschichtliche Kontinuum zurückzukehren. Selbst wenn es gar nicht gleich das blanke Elend wäre. Wir haben die mentalen Voraussetzungen dieser uralten Ungleichheit außer Kraft gesetzt: Dir und mir gebührt ein anderer Rang im Sein?

Kein Obdachloser glaubt heute noch, dass er sich vom Bundespräsidenten „ontologisch“ unterscheidet. Der Warschauer Bretterhüttenbewohner und sein fünfstöckiger adliger Nachbar glaubten das schon. Die Judenverfolgung war nur möglich mit dem letzten Schatten des geschichtlich überlangen „Dies ist doch eine ganz andere Seinsform!“-Blicks. Der eigentliche Individualismus beginnt, paradox genug, mit dem Gleichheitsdenken.

War Müller denn nicht der größte Ironiker? Und wie versteht man Ironie, deren Grundlage nicht der Ernst ist?

Der Londoner Dandy und Snob Oscar Wilde war der Ungleichste von allen, nach eigener Überzeugung schlechthin unver-gleich-lich! Dass ausgerechnet er einen Essay „Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus“ schrieb, ist heute nicht mehr zu begreifen. Aber man versteht es, sobald man die letzte Wahrheit des Individualismus kennt: Wenn ich ein Individuum bin, ist es dann nicht sehr wahrscheinlich, dass der andere auch eins ist?

Die deutschen Bundespräsidenten vermittelten bis jetzt immer den Eindruck, dass sie mehr wissen, als sie sagen. Das ist kein schlechter Eindruck für einen Bundespräsidenten. Diese Gesellschaft hat ein kulinarisches Verhältnis zur Geschichte, die Wirtschaft – insofern sie funktioniert – hat gar keins. Unsere Gegenwart besitzt zwar einen enormen historischen Kalorienverbrauch, aber sie steht mit ihren Begriffen außerhalb der Geschichte.

Heiner Müllers „Germania“ am Deutschen Theater ist ihr nicht mehr kompatibel. Als wir in der DDR halbwegs erwachsen und zurechnungsfähig waren, hatten wir immer das Gefühl: Die Geschichte geht mitten durch uns hindurch. Sie saß mit im Theater, wenn wir im Theater saßen. Sie las mit uns ein Buch, wenn wir ein Buch lasen. Später war das weg. Intelligenz, gerade historische – das lernt man heute bei Müller – ist nur zum Teil persönlich. Sie ist zeitbedingt, Zeitalter-bedingt.