Kämpfer in der Baugrube

Nach dem 1:4 der hilflosen Herthaner gegen Tabellenführer Bayer Leverkusen wird es für Manager Dieter Hoeneß immer schwieriger, sein Treuegelübde gegenüber Trainer Huub Stevens einzuhalten

aus Berlin MATTI LIESKE

Normalerweise wird ein Trainer, der sich schlecht benimmt, vom Schiedsrichter auf die Tribüne verwiesen. Dort setzt er sich dann inmitten gepauchpinselter Zuschauer nieder, wechselt manch neckisches Wörtchen und lässt sich von dem Umsitzenden freundlich auf die Schultern hauen. Nicht so im dekonstruierten Berliner Olympiastadion. Dort befindet sich da, wo die Tribüne sein sollte, eine Baustelle der tristesten Sorte, und just auf dieser postierte sich Huub Stevens, nachdem ihm Referee Markus Merk während der Partie gegen Bayer Leverkusen seinen angestammten Platz amoklaufbedingt entzogen hatte. Andererseits hätte dem Hertha-Trainer auch niemand auf die Schulter geklopft.

Also stand Stevens fast eine Halbzeit lang hinter dem Bauzaun, wie ein böser Junge, den man in die Ecke gestellt hat, auf dass er sich schäme. Und genau das war es auch, was die meisten der 36.638 Zuschauer von ihm erwarteten. Schämen sollte er sich, einer Mannschaft vorzustehen, die mit gigantischen Erwartungen in die Saison gestartet war, aber einen Fußball spielt, dass es den Bär graust, und am Samstag völlig verdient mit 1:4 gegen Bayer Leverkusen unterlag. „Stevens raus“-Rufe standen am Anfang, „Stevens raus“-Rufe“ am Ende. Alles deutet darauf hin, dass der Verein diesem unmissverständlichen Antrag von Publikumsseite in naher Zukunft nachkommen wird, auch wenn Stevens erklärt: „Ich werde kämpfen, das habe ich so gelernt.“

Er müsse „nachdenken“ über dieses seltsame Spiel, erklärte Manager Dieter Hoeneß anschließend und wirkte ratlos wie selten. Nur drei Minuten lang hatte es so geschienen, als könne der Sieger an diesem Tag vielleicht doch nicht Bayer Leverkusen heißen. Als die Gäste, die den Gegner schon in der ersten Halbzeit wegen dessen ausgeprägter Harmlosigkeit nicht mehr recht ernst genommen hatten, in der 47. Minute plötzlich den 1:1-Ausgleich durch Bobic kassierten, erhob sich die Frage, ob sie sich noch einmal aus ihrer entspannten Lässigkeit hochrappeln könnten. Der berechtigte Platzverweis gegen Herthas Lapaczinski, welcher den Wutausbruch und Baustellengang von Stevens begründete, enthob sie dieser Mühe. Eine Minute später schoss Berbatow das 2:1 und brach endgültig die Berliner Moral. Der ebenfalls berechtigte Platzverweis für Placente fiel nicht mehr ins Gewicht, wahrscheinlich hätte Bayer die armen Herthaner auch mit zwei Mann weniger noch nach Belieben ausgetrickst. Minutenlang lief der Ball vor dem 4:1 durch die Reihen der Leverkusener.

Als Bayer vor einem Jahr in Berlin gastierte, hatte Huub Stevens den in schweren Kalamitäten befindlichen Gäste-Coach Klaus Toppmöller noch getröstet und ihm angesichts des 1:1 bessere Zeiten prophezeit. Ironie des Schicksals, dass sich Hertha BSC nun sogar in einer schlechteren Situation befindet als damals Bayer und ausgerechnet Toppmöller als heißer Nachfolgekandidat für Stevens gehandelt wird. Hertha müsse jetzt „die Nerven behalten“, dozierte Leverkusens Manager Reiner Calmund, ausgewiesener Spezialist für verfrühte Abstiegspanik, bevor er sich dafür rechtfertigte, Toppmöller zu spät entlassen zu haben.

Die Calmund’sche Verwirrung über die vertauschten Rollen findet ihr Pendant auf Berliner Seite, wo man das Beispiel der Leverkusener Tauchfahrt, nachdem Toppmöller durch Thomas Hörster ersetzt worden war, wie eine blinkende Warnleuchte vor Augen hat. Zwar setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass Stevens nicht mehr zu halten ist, dennoch gilt er weiterhin als überaus kompetenter Trainer. Die Frage, wer dieser Mannschaft etwas geben kann, das Stevens ihr nicht geben kann, und was das wohl sein könnte, vermag niemand so recht zu beantworten. Toppmöller zum Beispiel hat seinen Ruf als Schönwettertrainer nie ablegen können, die kolportierte Lösung Thom/Preetz riecht verdächtig nach Hörster.

„Wenn ich mir die Gegentore ansehe, frage ich mich, ob da überhaupt ein Trainer auf der Welt etwas machen kann“, sagt Stürmer Fredi Bobic nicht zu Unrecht. Zwei Bayer-Treffer wurden dadurch ermöglicht, dass jeweils ein Hertha-Spieler ausrutschte und hinfiel, groteske Stellungs- und Abspielfehler eröffnen dem Gegner immer wieder Möglichkeiten. Das Spiel nach vorn ist von Ungenauigkeiten und Fehlpässen geprägt, allein der gerade genesene Marcelinho ragt heraus, wirkt aber gelegentlich fast so vereinsamt wie Stevens in seiner Baugrube.

Dennoch verkörpert der Brasilianer, mehr als jeder Trainerwechsel, die Berliner Hoffnungen auf eine Wende zum Besseren in einer schon jetzt völlig verkorksten Saison. Nach dem Aus im Uefa-Cup und der großen Kluft zur vorderen Tabellenregion geht es nur noch um den Klassenerhalt. Der Optimismus der Fans hält sich in Grenzen. „Wir haben die rote Laterne“, sangen sie am Samstag fröhlich, „und geben sie nicht mehr her.“