Im Setzkasten der Gefühle

In der Statik liegt Dramatik: Charles Gounods Oper „Roméo et Juliette“ am Bremer Theater überzeugend inszeniert

Roméo und Juliette hatten sich erst wenige Stunden zuvor kennen gelernt

Lerche oder Nachtigall? Nachtet es noch oder zeugt das Zwitschern vom kommenden Tag, der der verbotenen Liebe ein Ende setzt? Ornithologie spielt für alle Romeos und Julias dieser Welt eine existentielle Rolle. In Charles Gounods Roméo et Juliette von 1867 wird aus der vogelkundlichen Erörterung ein hinreißendes Duett.

Bei der Premiere der Bremer Gounod-Inszenierung war es allerdings eines, dessen Partner sich erst wenige Stunden zuvor kennen gelernt hatten. Für den erkrankten Jeffry Stewart sprang der Holländer Harrie van der Plas ein, was der berühmten Kuss-Szene einen einigermaßen improvisierten Charakter gab – ansonsten aber bemerkenswert reibungslos klappte. Nur, dass van der Plas so sang, als hinge ihm ein Degen an der Seite. Die Regie von Philipp Himmelmann hingegen setzt auf Stilisierung, sichtbar zunächst in der Rasterung der Bühne. Wie in einen überdimensionierten Setzkasten einsortiert verharren die Akteure der verfeindeten Familien in ihren Segmenten, die Aktionen – ob Liebesschwur oder Messerstecherei – gehen wie beim Billard über Bande. Dass diese Bande das Publikum ist, macht den Abend spannend. In der äußerlichen Statik liegt geballte Dramatik. Zumal mit Marion Costa eine Juliette auf dem garagenhaft anmutenden „Balkon“ sitzt, deren mühelos fließende Stimme Intimität, Euphorie und Verzweiflung herbeizaubert. Visuell unterstützt durch Florian Barths Bühne, die schwarz bleibt, um den weißen Oberhemden als potentiellen Blutflächen Leuchtkraft zu geben.

Gounods Musik – eine von rund 600 registrierten Vertonungen des Themas – steckt voller Abwechslung, barocken Zitaten, Mozart’schen Anklängen und hörbarer Wagner-Verehrung. Dazu viel Harfe und ein Chor, der in antiker Anlehnung nicht nur szenisch, sondern auch erzählend in Erscheinung tritt. Zwar muss man bei Letzterem vereinzelte Individual-Vibrati in Kauf nehmen, ansonsten dominiert guter Gesang, auch in den solistischen Nebenrollen, insbesondere bei Armin Kolarczyk als Roméos Freund Mercutio. Und die Bremer Philharmoniker unter Leitung des aufstrebenden Ersten Kapellmeisters Florian Ludwig hatten nur ein Problem: Die angedumpfte Akustik des viel zu eng besetzten Orchestergrabens.

Dem Bremer Theater, das wegen der Renovierung seines Haupthauses derzeit das (durch diverse Pleiten frei gewordene) Musicaltheater am Richtweg nutzt, ist mit diesem Abend sowohl eine überzeugende Inszenierung als auch solides Krisenmanagement geglückt. Den Krankheitsausfall bei der vorhergehenden Troubadour-Premiere (das Bremer Wetter ist heiserkeitsfördernd) hatte man mit einem Experiment zu kompensieren versucht: Der verstummte Sänger beschränkte sich auf’s szenische Spiel, der Ersatz sang dazu vom Bühnenrand.

Das aber wirkte eher mutig denn überzeugend. Und doppelte Gagen kann sich das Haus, das mit rund 26 Millionen Euro in derselben finanziellen Liga wie etwa das Mainzer Staatstheater spielen muss, ohnehin nicht leisten. Henning Bleyl

Roméo et Juliette, Oper von Charles Gounod. Nächste Vorstellungen: 22. und 25.10. sowie 2. und 9.11.