Komm, lass uns springen

„Ich schenk mir mal den Tee ein, er unterstützt mich jeden Abend, ich bin froh, dass ich ihn habe“: Benjamin Lebert las im ColumbiaFritz aus seinem neuen Buch über die ewige Sehnsucht nach Ficken und Brennen und gab den verlorenen Jüngling

von CHRISTIANE RÖSINGER

„Hallo emm, ich grüße euch und freue mich, und hoffe, dass ihr einen guten Tag gehabt habt, und dass es euch gut geht, dass ihr zurückfindet, dahin, wo ihr hin wolltet, oder dass ihr verloren bleibt, weil man so unendlich viele unfassbare Dinge findet, wenn man verloren bleibt“, so begrüßt Benjamin Lebert seine Zuhörer. Damit ist gleich klargestellt: Obwohl wir uns in der ColumbiaFritz befinden, einem Ort, an dem außer ein paar Lesungen während der Blütezeit der Poplitertaur vor ein paar Jahren eher Popkonzerte stattfinden, obwohl Benjamin Leberts neues Buch „Der Vogel ist ein Rabe“ allen gefallen hat und obwohl Benjamin Lebert seit seinem viel beachteten, in 33 Sprachen übersetzten Erstlingswerk „Crazy“ als deutsches Boyleinwunder gilt – dies ist keine Event-Lesung, dies ist eine Lesung ganz alten Stils.

„Der Vogel ist ein Rabe“ handelt von den Gesprächen zweier junger Männer während einer Zugfahrt, von Sehnsucht, Einsamkeit, Trauer, Verzweiflung. Sprachlich schwankt die Erzählung zwischen dem allzu platten Realismus in den Beschreibungen und den etwas gewollt poetischen Passagen, zwischen der ewigen Schwärze der Fensterscheiben und der ewigen Sehnsucht nach Ficken, Brennen, Verlorengehen. „What’s the point?“, will die ungeduldige Zuhörerin da an manchen Stellen fragen oder weiterblättern, aber das geht bei einer Lesung ja nicht.

Dann wird es wieder interessanter, wenn es um Berlin geht, wo alle hinwollen, wo es leuchtet, wo die Mädchen Goldstaub tragen. Aber Berlin kommt nicht gut weg, es ist ein graues Loch, das an den Menschen kaut. Denn Benjamin Lebert hat es in Berlin nicht gefallen, nach zwei unglücklichen Jahren in Berlin ist er nach Freiburg gezogen. Unwillkürlich tun sich da Parallelen von Crazy-Benjamin Lebert zu You-drive-me-crazy-Daniel Küblböck auf. Denn Letzterer, ebenfalls um die 20, war ja auch voller Enthusiasmus nach Berlin gezogen und schon nach zwei Monaten zurück ins beschaulichere München geflüchtet. Ist das etwa ein Kennzeichen der Generation der Zwanzigjährigen? Die Bewegung raus aus der Großstadt zurück in die Provinz? Statt „Raus aus der Gesellschaft – rein in den Rock“, wie es Rocko Schamoni einst für eine andere Generation formuliert hatte?

Benjamin Lebert ist ein guter Vorleser seiner Texte, er hat seine etwa hundert Zuhörer im Griff. Eine junge Mutter hat ihr sehr junges Kind mitgenommen, das kräht und schreit ab und zu in die heilige Stille hinein, dann drehen sich andere, ältere Literaturinteressierte missbilligend zu ihr um. Manchmal nervt der, der da spricht – dieser etwas altkluge, vielleicht sogar etwas esoterisch, zumindest ätherisch angehauchte junge Mann. Dann wird er wieder sehr explizit, mit dem Durchfall und dem unbeholfenen Schwanz, der in der Luft herumstochert.

Auf dem mit schwarzem Stoff verhangenen Lesetisch steht eine gläserne Teekanne nebst passender Tasse: „Ich schenk mir mal den Tee ein, er unterstützt mich jeden Abend, ich bin froh, dass ich ihn habe“, sagt der schüchterne Schriftsteller da oben. Zeitweise kommt der Verdacht auf, da inszeniere sich einer als viel schwieriger, verlorener, verrückter, als er tatsächlich ist. In Interviews beschreibt Lebert gern, wie Wesen und Stimmen in ihm ausbrechen wollen, haargenau so, wie man es aus den Erfahrungberichten von Schizophreniepatienten kennt.

Die junge Mutter hat mit ihrem Kleinstkind die Sitzreihen verlassen und lässt es jetzt auf dem weiten Hallenboden des ColumbiaFritz, hinten, wo keine Stühle mehr stehen, herumkrabbeln. „Und wir springen wieder“, sagt der Schriftsteller, wenn er ein paar Seiten auslässt. Zum Schluss hat er fast den ganzen „Roman“ vorgelesen, der sich ohnehin in 90 Minuten gut bewältigen lässt. Es folgen noch zwei Gedichte und ein Kolumne, die er für den Tagesspiegel geschrieben hat, Beobachtungen eines Kinderspielplatzes. Dann ist die Lesung zu Ende und an einem Büchertisch weiter hinten, da, wo vorher das Kleinkind den Boden ausgemessen hat, bildet sich eine lange Schlange. Es dauert ein wenig, bis der Autor zum Büchertisch findet, dann setzt er sich und signiert die Bücher der glitzernden Berlinmädchen und auch die des weniger glitzernden typischen Lesepublikums.