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: HELMUT HÖGE über Scheinschläge

Nachdenken über urbanen Lebensraum

Je besser die kostenlose „berliner stadtzeitung“ scheinschlag wird, desto seltener erscheint sie: nur noch „zehnmal jährlich“. Was haben wir uns anfangs über dieses blöde Architektur- und Stadtplanungsinfo geärgert, das auch noch von den diesbezüglichen Ämtern in Mitte mitfinanziert wurde. Aber je weniger ABM und Staatsknete, desto lesbarer wurde der scheinschlag. Das sollte allen zu denken geben, die den neoliberalen Kahlschlag beim Sozialstaat und besonders in der Kulturhauptstadt kritisieren.

Lasst die Politiker sich nur noch mit dem Verbieten des Tragens von FDJ-Hemden, Türken-Kopftüchern, autonomen Hasskappen, im Schritt geschlitzten Schülerinnentangas, Palästinenserfetzen und Neonazi-Symbolen beschäftigen – die direkte Volksherrschaft ficht das (in ihrer andauernden Abwesenheit) nicht an, im Gegenteil: Diese ganzen Senats-Rock- und -Modebeauftragten, Rosskastaniendezernenten und Kulturministeriellen signalisieren nur das Ende dessen, was sie eingärtnern sollen.

Die dümmste und prostitutivste aller Künste, die Architektur, setzte sich nach der Wiedervereinigung, die im Wesentlichen aus der „Abschreibung Ost“ (Sonder-Afa) bestand, sofort an die Spitze – und erklärte prompt den Urbanismus zum Leitdiskurs. Als dieser Quatsch mit den Pleiten der öffentlichen Hand zu einem vorzeitigen Ende kam, sprach auch der scheinschlag plötzlich von einem „Glück“, dass die ganzen stadtplanerischen Scheinwelten „nicht in die Realität umgesetzt“ wurden – und lud sogar zu einem öffentlichen „Nachdenken über urbane Lebensräume“ ins Kulturhaus Mitte. „Mir drängt sich der Verdacht auf, dass diese Konjunktur des Themas Stadt in öffentlichen Debatten seit 13 Jahren das ersetzt, was vorher Gesellschaft hieß“, sagte dort zum Beispiel Klaus Laermann von der FU. Guillaume Paoli von den Glücklichen Arbeitslosen sah diesen architekturhudelnden Dumpfreduktionismus auch und erst recht in der Literatur am Werk: „Wenn man sich heute einen Berlin-Roman vorstellt, sollte er eigentlich von türkischen Lebensmittelhändlern, polnischen Putzfrauen, afrikanischen Flüchtlingen, ukrainischen Nutten und polnischen Bauarbeitern handeln … Wer kann das schon schreiben? Was heutzutage unter Berlin-Literatur verstanden wird, ist Szene-Literatur, aber keine Berlin-Literatur.“

Mit der „Szene“ sind natürlich diese ganzen abstoßenden Stadtplaner-, Journalisten-, PR- und Grafikdesignbüros gemeint, also all die lichtdurchfluteten Lofts mit PCs, TV-Geräten, Telefongefiepe, Handygepiepse, Faxgeratter, Druckergeknatter, zischenden Espressomaschinen und stinkenden Raucherecken. Ihre Berlin-Literatur, das sind die Befindlichkeiten der glatzköpfigen Generation Golf, Pepsi, X etc., die sich als neue Hauptstadthypelite begreift, weil sie erstmals vorschussmäßig wohl bedacht wurde und deswegen bei den Cocktails in ihren Clubs nicht mehr auf den Preis achten muss.

Als „Stadtluft macht frei“ noch galt, schrieb Joseph Roth (bereits im Exil), dass sämtliche Schriftsteller, die die moderne Gesellschaft thematisiert hatten, Juden waren, all die anderen deutschsprachigen Autoren hätten sich dagegen nur mit der Innerlichkeit, mit Blut und Boden oder dem Kleinstädtischen befasst. Zu einem ähnlichen Befund kam laut scheinschlag Nr. 7 auch Frank Schirrmacher – 1989 –, der den heutigen Autoren (mit jüdischen Vornamen) vorwarf, dass sie immer noch unwillig seien, „das Dickicht ihrer eigenen Städte auch nur zu betreten“.

Dieses Fehlverhalten werde vor allem durch die ganzen „Landverschickungsprogramme für Autoren“ forciert, schimpfte „Scheinschläger“ Florian Neuner. Sein griechischer Mitdiskutant Soti Triantafillou beruhigte ihn: „Für große Literatur ist die Stadt vollkommen irrelevant.“ Und eine quasi anonyme Inderin ergänzte: „Erst recht Berlin!“