DIETER BAUMANN über LAUFEN
: Auf den Kopf gestellte Lebensläufe

Mittlerweile laufen die Massen Marathon. Warum sie sich quälen? Weil der Mensch ein Lebensläufer ist

Berlin Marathon, ein Mega-Event mit über 40.000 Teilnehmern, zwei Marathons (Skaten und Laufen) an zwei Tagen, Lauf- und Gesundheitsmesse an drei Tagen, ein Spektakel, ein Jahrmarkt und eine Herausforderung. Aber warum nur? Warum Marathon laufen, warum diese Qualen? Nur, um dem Karriereknick davonzulaufen, um sich jenseits der 40 was zu beweisen? Um das Vakuum des Lebens zu füllen?

Zu dieser Selbstfindung kommt Unvernunft. Meist viel zu viel erwartend, von der Strecke und von sich selbst. Meist zu schnell beginnend, dann einbrechend: quälende Schritte und schmerzverzerrte Gesichter auf den letzten Kilometern. Der Schriftsteller Günter Herburger deutet das Massenphänomen Marathon der heutigen Zeit so: „Der Mensch ist Fortbeweger.“ Viele übernähmen sich, „aber genau das wollen sie, in ein Nichts hineinlaufen“.

Paralympics 2004 in Athen. Mit dem siebten Platz in der Medaillenwertung war die deutsche Mannschaft überaus erfolgreich. Im Vergleich zu den Spielen in Sydney mit 16-mal Gold kam die deutsche Auswahl diesmal auf 19. Der Bundeskanzler war da, wenn auch nur kurz, und mit ihm eine größere Presseaufmerksamkeit. Dies braucht der Behindertensport, nicht nur um Sponsoren für die Förderung von Spitzensport anzulocken, sondern vor allem um Zeichen zu setzen, Integrationsprobleme in der Gesellschaft aufzuzeigen, andere Menschen mit ähnlichen Schicksalen zu motivieren. Einzelschicksale, die alle betreffen, die jeden treffen können. Behinderungen von Geburt an, durch Unfälle oder Krieg. Auf den Kopf gestellte Lebensläufe.

„Der Krieg ist wie eingepflanzt im Kopf“, sagte ein 800-Meter-Läufer aus Ruanda in einem Interview in der SZ, der seinen Arm verloren hat. Seine Teamgefährtin fügte hinzu: „Dank des Sports kann ich ein bisschen vergessen.“ Den Krieg vergessen, die Hutu-Milizen? Durch einen 200-Meter-Sprint bei den Paralympics? Herburgers These zum Marathon gewinnt in diesem Hinblick eine viel größere Bedeutung. Der Mensch als „Fortbeweger“, ein Lebensläufer: In allen Berichten über die Paralympics wird dies sichtbar. Leistungsbereitschaft, Training und vor allem Motivation zum Leben, zur Lebensgestaltung.

Sindelfingen, Glaspalast, ein kleines Sportfest für geistig behinderte Menschen.Vor einer Woche kämpften drei gemeinnützige Wohn- und Werkstätten verschiedenen Sportarten gegeneinander: Calw, Herrenberg und Sindelfingen. Im Glaspalast herrschte wildes Treiben, und es bestand kein wirklicher Unterschied zu einer Bezirks- oder Landesmeisterschaft in der Leichtathletik, im Gegenteil: Es waren mehr Zuschauer und Teilnehmer auf der Tribüne als in der olympischen Kernsportart.

Die Stimmung beim 60-Meter-Sprint war deshalb riesengroß. Johlen, grölen, brüllen. Einfach sagenhaft. Beim Start des Staffelwettbewerbs beispielsweise verstanden es die Teilnehmer – ganz nach amerikanischen Sprintvorbildern –, sich kameratauglich in Szene zu setzen. Sie hoben die Arme und wurden vom Publikum, von Freunden und Betreuern euphorisch gefeiert. Das Streben nach dem Ziel, die Anspannung, das Gewinnenwollen gleicht dem von „normal Behinderten“ – wie mir etwa. Auch beim Fußballturnier wird mit derselben Euphorie, mit derselben Begeisterung jedes Ergebnis kommentiert. Es ist ein gemeinsames (Sport-)Fest, bei dem sich jeder mit jedem freut oder mit jedem leidet.

Die Emotionen rund um den Sport sind immer gleich. Die Wünsche und Sehnsüchte, die wir uns durch das Sporttreiben zu erfüllen erhoffen, auch. Es scheint uns irgendetwas zu bewegen, irgendetwas gibt uns Kraft und motiviert – etwas, das in Lebenskrisen zu fehlen droht. Der Sport, die Emotion, das Zusammengehörigkeitsgefühl, das Ziel – irgendetwas lässt den Willen wachsen, zum nächsten Sprint, zum Durchhalten beim Marathon, zum Sieg über sich und zum Leben. Der Mensch ein „Fortbeweger“, ein Lebensläufer. Deshalb Kompliment an die Paralympic-Mannschaft, an meine Freunde in Herrenberg, Calw und Herrenberg.

Fragen zu Lebensläufen? kolumne@taz.de Morgen: Robin Alexander SCHICKSAL