Man sieht sich

Warschau sieht Berlin sieht Warschau. Am Alexanderplatz und am Plac Defilad wird’s möglich – dank einer Kunstinstallation von Georg Klein. Und ganz nebenbei wird der Livestream auch zur Bühne
aus Warschau GABRIELE LESSER

„Die Berliner sind langweilig. Wir trinken Saft und Bier und tanzen“

„Ruf doch mal in Berlin an, Kamil!“, ruft Magda Mosiewicz ihrem Parteifreund von den polnischen Grünen zu. Sie hockt in der Warschauer Metro-Station Centrum unterhalb des Kulturpalasts auf dem kalten Fußboden und hält den unteren Teil eines Transparents in die Kamera: „Keine Autobahn durch die Stadt.“ Kamil hüpft, so hoch er kann, und winkt mit weit ausholenden Armbewegungen. Gegenüber auf der großen Leinwand über den Rolltreppen hüpft auch jemand. „To jest Sandra w Berlinie – Das ist Sandra in Berlin“, ruft Kamil.

Magda wird es auf dem Boden langsam kalt. „Jetzt ruf doch mal an bei denen! Sehen die das auch spiegelverkehrt, oder können die das lesen?“

Kamil tippt ein paar Ziffern in sein Handy, hält es ans Ohr, lauscht, wählt erneut. Dann zuckt er die Schultern: „Geht niemand dran. Vielleicht zu laut bei denen?“

Magda steht auf. Sie müssen das Transparent irgendwie anders halten. Auf der großen Leinwand sehen sie sich selbst und ihren Spruch, den sie extra für die Deutschen in Berlin auf Deutsch geschrieben haben: „eineK nhabotuA / tdatS eiD hcruD“. Irgendwas stimmt da nicht. Magda ist frustriert: „Wer konnte denn ahnen, dass die Kamera den Spruch wie im Spiegel zeigt?“

Ein Punkmädchen in grünen Armeehosen und klobigen Soldatenstiefeln kommt vorbei, stutzt kurz, erfasst aber sofort die Situation und lacht: „Ihr spielt wohl Europa, was?“ Sie deutet auf die große Leinwand: „Deutsche? Das wird im Leben nix.“

Tatsächlich bemühen sich in Berlin, wo in der Passage der U-Bahn-Station Alexanderplatz ebenfalls eine Videokamera installiert ist, ein paar Grüne mit einem Transparent in polnischer Sprache. „ymechc ein / ydartsotua / otsaim zezrp“. Das Punkmädchen findet das urkomisch: „Die reden türkisch mit euch!“

Magda Mosiewicz nimmt es nicht weiter tragisch. „Das ist halt Kunst. Eine deutsch-polnische Video-Perfomance sozusagen. Auch wenn es halb schief gegangen ist, haben doch alle verstanden, worum es geht. Gegen die Autobahn, das ist die Hauptsache.

Kamil und Ewa rollen die Transparente zusammen, winken noch mal in Richtung Berlin und gehen mit Magda und den anderen zum Rathaus, wo die Hauptdemo der Grünen gegen die Autobahn mitten durch den Stadtteil Warschau-Ursynow stattfindet.

Im U-Bahnhof Centrum geht es ruhiger zu. Ein älterer Mann mit Plastiktüte kommt langsam die Treppe herunter. Verwirrt bleibt er vor der großen Leinwand stehen. Er sieht schemenhaft Leute auf sich zukommen – und danach wieder im Nichts verschwinden.

Bedächtig zieht er die Brille ab, putzt sie gründlich, setzt sie wieder auf. Dann schüttelt er den Kopf: „Kunst soll das sein? Ja, dafür bin ich wohl schon zu alt. Ich kann da gar nichts erkennen. Soll das an die Anfänge des Films erinnern? Da waren die Bilder auch so wackelig.“

Eine Mutter mit zwei Kindern geht zielstrebig auf die Kamera und die Leinwand zu. Sie winkt mit beiden Armen. Die Kinder tun es ihr nach. Auf der Leinwand sehen sie sich selbst. Oder besser die Schemen. Die leichte Zeitverzögerung verwirrt sie zunächst. Denn sie sehen die Arme oben, wenn sie in Wirklichkeit längst wieder unten sind.

Den beiden macht das Spiel trotzdem Spaß. Sie hüpfen und winken. Endlich winkt jemand aus Berlin zurück. „Wer ist das?“, fragt der sechsjährige Andrzej seine Mutter. „Kennst du den Mann?“

Die Mutter lacht und schüttelt den Kopf. „Das ist einer in Berlin, der sich darüber freut, dass du ihm zuwinkst. Deshalb winkt er dir zurück.“ Andrzej strahlt. „Fahren wir zu ihm hin?“

Olga kommt die Treppe runter, bleibt ebenfalls vor der Leinwand stehen, versucht Blickkontakt mit den Passanten in Berlin aufzunehmen. Aber die Augen sind nicht zu erkennen.

Die Germanistikstudentin ist oft in Berlin. Sie kennt auch den Alexanderplatz ganz gut. „Diese Videoinstallation ist eine gute Metapher der deutsch-polnischen Beziehungen heute: Wir sehen uns, aber wir erkennen uns nicht. Wir winken uns zu, aber wir haben keinen wirklichen Kontakt. Wir lachen, aber wir hören uns nicht. So bleiben wir uns fremd.“

aus Berlin UWE RADA

Die Frage ist immer dieselbe: „Wo ist das denn?“ Die Antwort auch: „In Warschau“. Und die Reaktion: „Ach so, in Warschau!“

Warschau ist immer noch weit weg von Berlin. Doch seit dem 25. September ist es nah, ziemlich nah sogar, näher geht es gar nicht. Die Entfernung zwischen der deutschen und der polnischen Hauptstadt ist auf null geschrumpft.

Zumindest am Alexanderplatz. Wer von der Unterführung die Haupttreppe zur U-Bahn hinabsteigt, sieht auf die grünen Kacheln zwei Livebilder projiziert – das eine von sich selbst, das andere von denen, die am Plac Defilad in Warschau die Treppe runtergehen. Begegnung in Echtzeit ist das, obwohl dazwischen 600 Kilometer liegen – und manchmal ganze Welten.

Diese Nähe muss anziehend sein. Wer sich selbst im Bild sieht, bleibt stehen. Sieht das andere Bild flackern. Auch darauf bleiben sie stehen. Gucken etwas irritiert. Irgendeiner winkt, soll man zurückwinken? Warum nicht? So einfach ist Kommunikation.

Das dachten sich auch die Berliner Grünen, als sie gestern zum Protesttermin an den Alex luden. „Poperiamy protest mieszkanców Warszaway“ war die Presseerklärung überschrieben, fehlerlos natürlich, dafür ging im Deutschen der ein oder andere Buchstabe verloren. „Wir unterstützen den Protest der Warschauer“, erklären die Grünen den Passanten. „Gegen den geplanten Bau eines Autobahnteilstücks durch einen Stadtteil von Warschau und einen Park.“ So viel Globalisierung von unten muss sein.

Dass die Autobahn Warschau mit Berlin verbinden und auf ihre Weise zur Verringerung der Distanz zwischen beiden Städten beitragen soll, tut nichts zur Sache. „Die Warschauer Grünen haben bei uns angerufen und gefragt, ob wir mitmachen“, sagt Claudia Hämmerling, die Verkehrsexpertin der Fraktion. „Natürlich, haben wir gesagt, ist eine tolle Idee.“

So stehen sie nun da und laufen mit den Transparenten durchs schemenhafte Bild. Die Plakate sind Polnisch: „Autostrada przez miasto? Nie!“ In Warschau haben die Grünen deutsche Plakate gemalt. „Keine Autobahn durch die Stadt.“ In Zeiten wie diesen ist man schon froh um solche Symbole.

Auch der Initiator des Projekts, Georg Klein, ist inzwischen eingetroffen. Die Aktion der Grünen macht ihm Spaß. „Finden Sie nicht, dass die Demonstranten ihre Installation missbrauchen“?, versucht ein polnischer Journalist zu sticheln.

„Überhaupt nicht“, antwortet Klein. „Das Projekt ist eine Bühne, die jeder nutzen kann. Ist doch toll, wenn die Leute was draus machen.“ Das findet auch der polnische Journalist. Ganz bereitwillig lässt er sich ein Plakat in die Hand drücken und stellt sich vor die Kamera. So schnell können aus Worten Taten werden.

Ein Kunstprojekt als Mitmachbühne. Das war schon am Eröffnungstag so. Polnisches Żywiec-Bier gab es da und jede Menge Spaß. „Hey, der gibt dir ein Zeichen, ne Zahl, schreib auf! Mann, das ist ne Telefonnummer. Wenn der jetzt anruft, wie sprechen wir denn dann?“

Dass es zwar Live-Bilder, aber keine Live-Töne gibt, hat Georg Klein entschieden. „Die Leute müssen in Bewegung kommen, was mit ihrem Körper machen, mit Ton wär das nichts.“

Stattdessen liegt nun ein Klangteppich mit Gedichten von Wisława Szymborska und Heiner Müller in der Luft. Unverständliche Fetzen aus dem Lautsprecher, man hört nicht mal, ob das Polnisch ist oder Deutsch. „Wenn keiner aufpasst“, seufzt Klein, „dreht die BVG den Ton leise.“

Inzwischen diskutiert man, wer sich mehr traut, die Deutschen oder die Polen. „Die Berliner sind verklemmt, die stehn nur rum. Wir trinken dagegen Bier und Saft, natürlich mehr Saft als Bier, und tanzen vor der Kamera“, hatte sich eine Warschauerin ein paar Tage zuvor per Radioreportage beschwert, das ist nun auch am Alex angekommen. „Quatsch“, meint einer und fängt an, wie wild mit den Armen zu fuchteln. In Warschau geht einer im Anzug die Treppen runter. Was wird er wohl denken?

Inzwischen haben die Grünen ihre Transparente zusammengerollt. Eine Frau schiebt ihren Kinderwagen durch den Tunnel zum Ausgang. Auf der grünen Kachelfläche ist zu sehen, wie sie immer kleiner wird.

Ein schöner Abspann.