Das Volk als Spiegel

Das Skulpturenwerk „Das Volk – ein Leben für die Königin im Maschinenraum“ des Künstlers Leo Stern verweist auf das Spannungsverhältnis von Kollektiv und Individuum – und will als kritische Zustandsbeschreibung gelesen werden

28 überlebensgroße, vollverchromte Ameisen sitzen in zwei Reihen mit je sieben Paaren an Ruderbänken, darüber zwei, die an der Decke hängen. An den Wänden: Spiegel, die die reflektierenden Individuen und ihre Formierung unendlich auf sich selbst zurückwerfen. Eine organisierte Masse, ein streng hierarchisch funktionierendes System, ein aus über 1.450 Einzelteilen hergestelltes beängstigendes Symbol für den Begriff des „Volkes“ – jenes prinzipiell unbestimmte politische Kollektiv, dessen unvermeidliches „Wir“ mit all seiner Emotionalität und Assoziationskraft sich nicht zuletzt vielfältiger demagogischer Verwendung anbietet.

Seit zwei Jahren beschäftigt sich der in Hamburg lebende Leo Stern – unter anderem Maler, Bilderbauer, Bühnen-Kostümbildner und Mobile-Stage Designer – mit Symbolen, die den Begriff, das Ideal und Klischee des Volkes jenseits nationaler und kultureller Differenzen repräsentieren und die prekäre Relation zwischen Kollektivität und Individuum reflektieren. Die Ameise und ihr Staat sind eines davon, allen bekannt und vermeintlich deutlich. Die zentrale Frage dabei: Auf welche Weise kann der Begriff des Volkes zugleich identitätsstiftend wie auch grenzüberschreitend sein? Welche Instanz entscheidet über die Zugehörigkeit, wie wird der Ausschluss geregelt? Wie wird die Masse zur Bedrohung und: Gibt es im Volk überhaupt eine Chance zur Individualität? Komplexe Fragen, denen Stern mit verschiedenen Medien nachgeht: „Das Volk“ gibt es als Gemälde, als Film und als wandernde Skulptur.

Dabei ist die Reflexion, zu der die BetrachterInnen des monumentalen Bildes aufgefordert werden, durchaus wörtlich zu verstehen. Wie man sich auch zu den wie geklont wirkenden 115 Zentimeter großen Kunststoffameisen in Position bringt, stets wird der Blick durch deren semi-transparente, verchromte Oberfläche zurückgeworfen. Eine Oberfläche, deren zerlaufende dunkle Farbschicht den Angehörigen der konformen Masse zwar zumindest ein Stück Individualität gibt. Anders als noch in der Baseler Imprimerie, in der das Skuplturenwerk im Rahmen der Art Basel zum ersten Mal zu sehen war, tanzt indes in Hamburg keine der Ameisen mehr ausdrücklich aus der Reihe und schwimmt gegen den Strom. Aber wer weiß? Vielleicht gibt es ja noch viel mehr Ameisen. Die längst ans rettende Ufer geklettert sind. Und dort … ROBERT MATTHIES

Vernissage am Do, 26. 3., 19.30 Uhr. Ausstellung bis Mo, 20. 4., Mo – Fr 10 – 19 Uhr, Sa 10 – 18 Uhr, So 13 – 18 Uhr, Stilwerk Hamburg (4. OG), Große Elbstraße 68; Infos: www.dasvolk.com