Ein alter Mann fürchtet das Schweigen

Bodo Kirchhoff vergisst seine Ironiemarker und liefert nach dem Schundroman den Kitschroman: „Wo das Meer beginnt“

VON SEBASTIAN DOMSCH

Mit seinem „Schundroman“ ist Bodo Kirchhoff im letzten Jahr ein kleiner Geniestreich gelungen. Hat er es doch geschafft, seiner schon immer erkennbaren Neigung zum Schundhaften und Trivialen in der Literatur ganz nachzugeben und mit einem einzigen Augenzwinkern das Ergebnis als Literatur zu legitimieren. Ironie sprang den Leser bereits von Titel und Umschlagbild aus an, verließ ihn bis zum letzten Satz nicht mehr und machte die Lektüre so zu einem im besten Sinne billigen und gleichzeitig intellektuellen Vergnügen. In seinem neuen Roman „Wo das Meer beginnt“ fehlen sämtliche Ironiemarker, und das tut ihm nicht gut.

Es geht natürlich um Liebe. Nicht um die märchenhaft ewige, sondern um die, die sich das ganz große L von Leidenschaft borgt; die es vielleicht nur einmal im Leben gibt, wie der Lehrer Branzger seinem Schüler doziert, vielleicht nur eine einzige Nacht lang. Kann er damit tatsächlich das verunglückte erste Mal zweier Teenager meinen, im Heizungskeller eines deutschen Gymnasiums nach der Theaterprobe? Weh dem, der keine intensiveren Erfahrungen in seinem Leben machen wird.

Genau dieses Ereignis aber steht im Zentrum der Aufmerksamkeit von „Wo das Meer beginnt“. Viktor und Tizia wollten ihre Pyramus-und-Thisbe-Szene aus dem Schulspiel ausbauen zu einer Erkundung des jeweils anderen Körpers. Als sie dabei vom Hausmeister belauscht werden, der sogleich das im nahe gelegenen Griechen versammelte Kollegium alarmiert, wird daraus von Tizias Seite der halb ausgesprochene Vorwurf einer Vergewaltigung. Man merkt schon: Liebe, Sex, Gewalt, mithin Leidenschaft. Da es dafür in deutschen Lehrerzimmern natürlich kein Verständnis gibt, muss ein Disziplinarkomitee her. Wenn es schon keine Anzeige gibt, dann einen Schulverweis. Doch ganz wie bei Sidney Lumets zwölf Geschworenen gibt es einen Gerechten, in diesem Fall Dr. Branzger, der allein, aber beharrlich für den Delinquenten kämpft und vor dem Rauswurf rettet.

Branzger ist kein Unbekannter im Kirchhoff-Kosmos. Schon in dessen erster Novelle „Ohne Eifer, ohne Zorn“ von 1979 lernte der Leser ihn beim Beobachten, Bodybuilden und Masturbieren kennen, und im Roman „Der Sandmann“ (1992) manipuliert er ein Tagebuch und wird von einem Dach gestoßen. In seiner Großabrechnung mit dem Literaturbetrieb wird Branzger schließlich zum vergessenen Schriftsteller und Symbol für Kirchhoffs Anspruch, lange vor Houellebecq und auf besserem Niveau dessen Bücher geschrieben zu haben. Das mag auf sein früheres Werk zutreffen. Spätestens mit „Wo das Meer beginnt“ aber scheint er eher dem Kollegen Robert Schneider hinterherzuschreiben, und auch Branzger, alt und lebensmüde, ist nicht mehr der, der er einmal war.

Wenn der Schleier der Ironie fällt, bleibt manchmal eben nur der Kitsch übrig. Damit aber nun auf den freiwilligen „Schundroman“ nicht der unfreiwillige „Kitschroman“ folgt, gibt sich Kirchhoff alle Mühe, seinen Text zumindest erzähltechnisch so anstrengend wie möglich zu machen. Denn was sich schwer oder mühsam liest, muss mithin Literatur sein.

Kirchhoffs Erzählsituation ist daher aufwändig konstruiert – man möchte „kunstvoll“ dazu sagen, wenn ihr nicht so viele Inkonsequenzen innewohnen würden. Nach der Tat und dem Komitee entwickeln Branzger und Haberland bei zu schwarzem Kaffee und wöchentlichen Gesprächsrunden über Liebe, Gewalt etc. so etwas wie eine Freundschaft. An diese Lehrstunden des Herzens erinnert sich Haberland, der Icherzähler des Romans, zehn Jahre später, während er für das Goethe-Institut in Lissabon einen Abend unter dem Titel „Das traurige Ich“ vorbereitet, zu dem Tizia als Schauspielerin eingeladen ist.

So schildert uns der mittlerweile dreißigjährige Haberland über weite Strecken des Romans mithilfe von Notizen Branzgers, wie ihm sein alter Lehrer damals, ebenfalls mithilfe von Notizen, den Verlauf der Lehrerkonferenz rekonstruierte. Bei so vielen Vermittlungsebenen sollte man ein wenig sprachliche Verdichtung erwarten können, den Schleier einer gewissen Distanz, der das Unwesentliche verschwimmen und das Wesentliche klar hervortreten lässt. Das aber widerspricht dem poetischen Programm des Autors und wohl auch seines Sprachrohrs Branzger, nach dem es um den Akt des Erzählens und nicht sein Ergebnis geht, weshalb wir mit unerbittlicher Konsequenz jedes Detail der Alt-68er-Spießerselbstentlarvungsrunde inklusive Hintergrundinformationen aufgetischt bekommen. Man kann das episches Insistieren nennen, auch Geschwätzigkeit, denn hier erzählt keine Scheherazade um ihr Leben, hier fürchtet ein alter Mann das Schweigen.

Es wird denn auch nichts Rechtes aus dem Quidproquo-Erzählpakt zwischen Schüler und Lehrer, nachdem auf das Protokoll der Konferenz die Schilderung dessen folgen sollte, was wirklich passierte im Heizungskeller, denn Haberland kommt eigentlich gar nicht dazu, etwas zu sagen, genau wie der Roman in dem Moment abbricht, als er und Tizia sich in Lissabon wiedersehen. Gut, da ist man als Leser dem Autor dann doch auf den Leim gegangen, hat gegiert nach der authentischen Schilderung der Leidenschaft, und die kann es gar nicht geben, denn sie ist unbegreifbar und sprachlich nicht fassbar. Man nimmt diese Lehre mit, so ganz neu ist sie ja auch nicht, und fragt sich im Stillen, ob man nicht etwas weniger umständlich hätte draufkommen können.

Bodo Kirchhoff: „Wo das Meer beginnt“. FVA, Frankfurt/M. 2004, 320 Seiten, 19,90 Euro