Auch Götter sind Menschen

Kinder- und Jugendtheater geht auch ohne Kasperle und Zeigefinger. Das cantadoras- Ensemble bleibt in Essen seinen Qualitäten treu. Lieber Ovid für Jugendliche, als Wasserpistolen für Kinder

Unser ganzes Leben ist durchzogen von Wandlung und Veränderung

VON PETER ORTMANN

Seit Urzeiten ist bekannt, dass Götter gefährlich sind. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Dabei sind Götter eigentlich wie Menschen: Sie haben einen Hang zum Quälen und Vernichten, sind selbstsüchtig und eitel. Kinder sollten das früh erfahren.

Eine Chance bietet derzeit das internationale offene Theater-Ensemble cantadoras. In Essen zeigt die Truppe das Stück „Verwandlungen – frei nach Ovid“ – und geht damit neue Wege. Weg vom sozialpädagogischen Zwangs-Aufklärungs-Theater der 1970er Jahre. Weg vom schreiend bunten Trallafitti mit Clownskostüm und dummem August. Cantadoras nimmt die Kinder und Jugendlichen ernst, verlangt ihnen etwas ab, und glaubt an die rohe Faszination der Bühne selbst.

Doch antike Mythen und Geschichten sind nicht immer einfach. Das fängt schon bei den Namen an: Inachus, Deucalion, Phyrrah, Tisiphone. Nicht ganz leicht, die alten Römer oder jungen Griechinnen auseinander zu halten – doch niemand sollte die jungen Theaterbesucher unterschätzen, die neuen Götter der digitalen Spielkonsolen haben ähnlich schwierige Namen, auch wenn sie moderner klingen. Geschichten erzählen, das konnten die in der Antike und ihre Inhalte sind bis heute brandaktuell. Das gilt für das kleine wie das große Theater.

Adriana Kocijan, Janin Roeder und Thomas Rascher verwandeln sich auf einer – wie sollte es anders sein – spartanischen Bühne. Mal in Götter, mal in geplagte Menschlein und mal zur Strafe in einen Baum. Requisiten sind dafür kaum notwendig. Mal reicht eine Klarsichtfolie, mal einfache Eisenrohre, in denen dicke Äste stecken. Mit einer schlichten, aber bühnentechnisch hervorragenden Ästhetik werden sie zu Gefängnissen oder einem Wald. Durch ihn irrte einst Io, die von Jupiter in eine Kuh verwandelt wurde, weil der Casanova Schiss vor seiner Gattin Juno hatte. Ios Vater Inachus, im Nebenberuf auch Flussgott, sucht sie deshalb erst vergeblich. Als er aber erfährt, wie schön sie muht, verstößt er sie. Logo, schließlich ist er ja der Flussgott. Doch Io findet noch ihr Glück in Ägypten. Wie? Das wird hier nicht verraten.

Und bei cantadoras ist das Gott-Dasein natürlich kein Privileg. Schon in der nächsten Szene kann man sich wieder als Menschlein abrackern, vernichtet werden oder aber zum Retter der Menschheit avancieren, wie Deucalion und Phyrrah, die eine ultimative Sintflut überleben und ganz von vorn anfangen müssen oder dürfen.

Die vierte Person im Stück ist die Musikerin Katrin Mickiewicz, die simultan und manchmal mit ungewöhnlichen Geräuschgebern Hintergrundtöne, Musik und Lieder unplugged beisteuert, ab und an auch Szenen ergänzt. Wenige ausgezeichnete Mimen also für die vielen extravaganten Personen in den fünf durchwandelten Episoden frei nach Ovidius Naso (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.), der über die heilige Nacht hinweg vom Politiker zum Dichter wurde.

Ab acht Jahren sollen Kinder die 70 Minuten stilles Theaterspektakel genießen können – mit ihren Erziehungsberechtigten natürlich, die anschließend vielleicht ahnen, weshalb die Pisa-Studie so negative Schlagzeilen erzeugte. Möglich machte diesen Nachmittag die Kunststiftung NRW, die mit ihrer Förderung bei einer der besten freien Theatergruppen im größten Bundesland richtig gelegen hat. Warum die Premiere in Essen dann nur mäßig besucht war, bleibt ein kleiner, unverständlicher Skandal. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf experimentelle Theatersprache. Verstehen werden sie die universellen Götter-Geschichten allemal. Und wenn es erst drei Tage später ist.

05., 06. und 07. OktoberKatakomben, EssenInfos: 0201-8141494