Studieren ist besser als cremen

Hilde, 58, tuschelt und Franz, 78, lässt seinen Tischnachbarn nicht an den Computer. Immer mehr Senioren streben in Hochschulen und Kurse. Sie werden dabei schlauer – und vitaler. Ein Tag mit wissbegierigen Alten in einem Internet-Seminar

aus Hamburg STEPHANIE JANSSEN

Vorne am Pult zerreißt Peter Minks ein Blatt Papier in Hundert Teile. Er schleudert es in die Höhe. Die Schnipsel segeln langsam zu Boden. Der Dozent will damit seinen Zuhörern verdeutlichen, wie eine Internetbotschaft beim Versenden in lauter kleine Teile zerlegt wird. Die Zuhörer freuen sich. Sie beklatschen ihren Internetlehrer samt verstreuter Fitzelchen.

Sechzehn Schüler sitzen vor Computern. Sie machen an diesem Tag Bekanntschaft mit dem Internet. Die erste E-Mail werden sie schreiben, zum ersten Mal wird eine Suchmaschine sie mit Treffern überschwemmen. Die Teilnehmer sind keine Jugendlichen. Das Nesthäkchen unter ihnen ist Mitte fünfzig, der Älteste zählt 80 Jahre. Sie alle besuchen einen Tageskurs der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di für Senioren im Internet. Peter Minks, ihr Dozent, ist selbst 63.

Hilde Wolters*, 58, trägt eine gestreifte Hochwasserhose. In der letzten Reihe tuschelt sie mit ihrer Tischnachbarin. Mit dem Ausfüllen des virtuellen Bankformulars hat sie keine Probleme, daher bleibt ein bisschen Zeit, zu schnacken. „Merkt ihr, wie einfach das ist?“, ruft von vorne jemand. Da ist Hilde ist sofort wieder bei der Sache. „Ja, ja“, nickt sie als Erste in die Runde. Niemand soll sagen, sie käme nicht richtig mit.

Hilde hat schon etwas Vorwissen. Seit einem halben Jahr besucht sie einen Computerclub in ihrer Nachbarschaft. „Da konnte ich jedenfalls schon mal den großen Respekt vor diesem Ding abbauen“, gesteht sie. „Meine Freundin und ich buchen dann im Netz immer die günstigsten Fähren nach Helgoland oder schicken Post zu den Clubfreunden nach Berlin.“

Im Internet gibt es mittlerweile ein reichhaltiges Angebot speziell für Senioren. Das Seniorweb der Universität Bonn etwa bietet Interessierten zahlreiche Tipps. Weiterbildung gehört dazu, Gesundheit und nebenbei die Möglichkeit, Kontakt zu Surf-Senioren rund um den Globus aufzunehmen. An den Universitäten steigt die Zahl der Seniorenstudenten beständig an. Studierten Mitte der 90er-Jahre laut einer Erhebung der Uni Augsburg etwa 25.000 ältere Menschen ab 60 Jahren, so tummeln sich nach Schätzungen heute mehr als 37.000 an den Unis. Fünfzig deutsche Hochschulen bieten mittlerweile spezielle Studiengänge für Senioren an. Die Älteren wollen ihre freie Zeit sinnvoll nutzen – und geistig fit bleiben.

So denkt auch die 66-jährige Monika Feldmann. Warum sie sich in ihrem Alter mit elektronischen Medien beschäftigen will? „Sonst wird man ja blöd!“, sagt sie und schüttelt ihre weißen Locken. Nach diesem Tag im Internet ist sie entschlossen, sich einen eigenen PC zu kaufen. „Meine Oma ist 1889 geboren, also im vorletzten Jahrhundert. Sie ist mein großes Vorbild, denn sie hatte schon früher immer die neuesten technischen Geräte, wenn wir Jugendlichen erst gerade mal davon gehört hatten.“

Die so genannten Langlebigkeitsforscher bestätigen, was Frau Feldmann fühlt. Sie haben untersucht, inwiefern geistige Leistungsfähigkeit und Sterberisiko zusammenhängen. Vor allem Frauen, so das Ergebnis, lebten länger, wenn sie großes Interesse an gesellschaftlichen Ereignissen hatten. Produktive Tätigkeiten sind günstig für die Lebensdauer. Selbstpflege und ausgedehnte Ruhepausen bewirken eher das Gegenteil. Das haben die Spezialisten des Max-Planck-Instituts für demographische Forschung und des Heidelberger Zentrums für Altersforschung in einer Studie mit über 60-jährigen Menschen herausgefunden.

Doch Monika Feldmann fällt die Aktivität nicht leicht. Sie hat Schwierigkeiten, dem Kurs zu folgen. „Die Leinwand ist so weit weg und ich seh doch so schlecht.“ Sie hat als Einzige keinerlei Vorerfahrung mit dem Computer. Auch die Maus weiß sie noch nicht zu steuern. Monikas Lösung: „Neben mir sitzt einer, der kann das.“ In die Liste für den Nachfolgekursus hat sie sich schon eingetragen.

Rechts von Hilde sitzt derweil Franz Mollenhauer kerzengerade in seinem Bürostuhl. Die Maus lässt er nicht mehr los. Der 78-Jährige wiederholt jede Aktion des Dozenten genau so an seinem Rechner. Seinem Nebenmann Heinz erlaubt er nur selten den Zugriff auf die Tastatur. Franz ist nervös, er hinkt zwei Schritte hinterher. Er könnte jetzt komplett den Anschluss verlieren. Um Heinz, der zu spät zum Kurs kam, kann er sich nun nicht mehr kümmern.

Für solche Fälle ist Elke Minks zuständig. Als Assistentin des Kurses flitzt sie von einem Bildschirm zum nächsten. Sie hilft aus, wo jemand ratlos vor seinem Rechner sitzt. Genau wie ihr Mann, der Dozent, ist sie Expertin in Sachen Internet.

Den Kurs betreut sie ehrenamtlich. Als Aufwandsentschädigung bekommt sie für diesen Tag 25 Euro, Peter Minks 50 Euro. „Davon kann man nicht reich werden“, seufzt er – bremsen lässt er sich vom mageren Lohn aber auch nicht. Neben seiner Lehrtätigkeit hat er bereits vier Internetclubs für Senioren in verschiedenen Hamburger Stadtteilen gegründet. „Der Andrang ist riesig“, sagt Minks, „aber aus Platzgründen muss ich in allen Clubs leider immer wieder Leute auf die Warteliste setzen.“

An den Clubtreffen nehmen regelmäßig mehr Frauen als Männer teil. „Nach einigen Wochen suchen dann die Damen die guten Kleider hervor und kommen schon mal mit einer frischen Haartönung“, erzählt Peter Minks. Er ist ganz begeistert. „Das neu gelernte Wissen hat denen das Gefühl gegeben, sie sind wieder wer.“

Auch in Studien wird das immer öfter als zentrales Motiv des Altenstudiums identifiziert. Ende der 70er-Jahre, als das Seniorenstudium begann, wollten die Rentner aufholen und kompensieren. Heute gilt die Suche nach neuen Orientierungen als die Triebfeder. Und der Wunsch, mit jüngeren Menschen in Kontakt zu treten.

Die ältere Generation fühlt sich schon sprachlich ausgeschlossen. Die Alltagssprache in Werbung, Fernsehen und sogar im Gespräch mit Kindern und Enkeln strotzt nur so von englischen Begriffen. „Hier können wir helfen“, meint Minks. „Wenn Worte wie Explorer und Hyperlink nicht mehr nur Fragezeichen hervorrufen, dann tanken die Leute Selbstbewusstsein.“

Der erste Kontakt mit dem Computer soll die Neulinge nicht frustriert zurücklassen. „Schalte ich mit der Enter-Taste eigentlich den Computer aus?“ gehört zu den Fragen, auf die das Ehepaar betont gelassen reagiert. „Wir sind nicht dümmer als die Jüngeren, nur etwas langsamer lernen wir“, predigt Minks. „Wenn 10 bis 20 Prozent vom Tag heute bei euch hängen bleiben, dann ist das ist schon gut“.

„So wenig nur?“ Ungläubig schauen sich die Teilnehmer an. Jeder traut sich insgeheim zu, ein paar Prozente mehr zu schaffen.

*Namen der TeilnehmerInnen geändert