„Schin-ken, Schin-ken!“

Die Toten Hosen gelten in Deutschland als tote Hosen. In Argentinien gehören sie zu den populärsten Bands der jungen Erwachsenen. Jetzt spielten sie live. Im Wohnzimmer von Juan Manuel

aus Buenos Aires INGO MALCHER

Sam haben sie es zu verdanken. „Warum sollen die Toten Hosen bei dir zu Hause im Wohnzimmer spielen?“, lautete die Preisfrage. Juan Manuel Marcos schickte einen Brief. Darin stand, dass Sam die Toten Hosen gesehen haben muss, bevor er aus dieser Welt geht. Sam kann das Haus nicht mehr verlassen, er ist sterbenskrank.

Dazu klebte Juan Manuel ein Foto von sich am Strand, schnitt ein Foto des Ritz-Carlton-Hotels aus und behauptete, das sei sein Haus. Sam hat es dann aber nicht mehr geschafft. Vor einigen Wochen ist er gestorben. Sam war der Hund von Juan Manuel.

Sams letzter Wille indes wurde erfüllt. In einem Hinterhaus im Stadtteil Martinez steht vor einem Landschaftsgemälde in Öl ein Schlagzeug, daneben stehen Verstärker. Davor eine Meute von gut 30 Jugendlichen, die singen: “Oleeeeoleeeoleeeoleee, Chosen, Chosen.“

Die Toten Hosen starten mit: „Wünsch dir was.“ Die Gäste von Juan Manuel machen sich daran, beim Pogotanzen das leer geräumte Wohnzimmer zu zerlegen. Der Hausherr ist 25 und hüpft in Leopardenmuster-Unterhose durchs Bild. Er ist fest entschlossen, sich mit diesem Privatkonzert bei seinem Nachbarn zu rächen.

„Ein Psychopath“, der ihm das Leben schwer macht. „Psychopathen!“, flucht der wahrscheinlich zur gleichen Zeit. Kein Wort wird er verstehen. „Opel Gang“, „Alex“, „SCHIN-KEN!“ Das klingt für Ohren die kein Deutsch verstehen, vermutlich so ähnlich wie Schlachtgeschrei – zumindest wenn die Wörter aus einem Verstärker in ein Wohnzimmer gehämmert werden.

Trotzdem singen alle mit. Die Toten Hosen in Buenos Aires sind ein Phänomen. Bei Argentiniens jungen Erwachsenen zählen die Düsseldorfer Altpunker zu den populärsten ausländischen Rockbands. Und sie kommen jedes Jahr wieder. Sie spielten mit Iggy Pop im Club Dr. Jekyll, mit den Ramones im River-Plate-Stadion. Kommendes Wochenende sind sie nach der Absage von Metallica der Top Act beim Quilmes Rock Festival. Und jetzt sind sie im Wohnzimmer von Juan Manuel. Neunmal hat er sie schon live gesehen.

Er behauptet: „Ich verstehe bei einigen Liedern, was sie sagen wollen, ohne die Wörter zu kennen.“ Musikalisch liegen die Toten Hosen im Trend. Sie passen zu lokalen Größen wie den Fabulosos Cadillacs oder den Autenticos Decadentes. Aber sie geben mehr Gas. „Sie haben unendlich viel Energie, viel Charisma und eine gute Melodie“, meint Juan Manuel. Er hält sie für die beste Live-Band der Welt.

„Die mögen das hier, wenn man sich zerreißt“, sagt Campino. Zwei Tage später, beim Konzert im legendären Luna-Park, wo sonst Boxkämpfe ausgetragen werden und Schlager-Seufzer wie Palito Ortega der verflossenen Liebe nachsingen, kommt Campino nach einem Sprung ins Publikum ohne Schuhe und Mikrofon zurück. „Das ist hier ein Rock-und-Punk-Land“, meint er. Im Jahre 1993 waren sie zum ersten Mal in Buenos Aires. Ein Bekannter aus Deutschland war überzeugt, dass die Toten Hosen in Buenos Aires einschlagen würden. Sie vereinbarten einen Deal: Wenn er die Tickets schickte, würden sie kommen. Sie kamen. Doch als sie um zwei Uhr nachts im Club Halley eintrafen, war noch kein Mensch da. Alles sah nach einer Pleite aus. Doch um vier Uhr morgens platzte der Club fast – der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, welche die Hosen bis in Juan Manuels Wohnzimmer führte.

Es ist unerträglich schwül. Die Hitze drückt aus den Fenstern nach draußen. Campino verschüttet Wasser und Bier, seine Haare sind verschwitzt und kleben am Kopf. Juan Manuel spricht nicht mehr. Er sagt nur noch: „Unglaublich.“ Sein Freund gibt im Viervierteltakt das Wort „Phänomen“ von sich, spielt ansonsten gleichzeitig Luftschlagzeug, Luftbass und Luftgitarre.

30 Tote-Hosen-Fans haben jetzt Gesichter, als wollten sie das Präsidentenpalais erstürmen. Sie recken die rechte Faust und brüllen zum Angriff: „SCHIN-KEN!“ Man erinnert sich: „Ein belegtes Brot mit Schinken / SCHIN-KEN! / Ein belegtes Brot mit Ei / Ei!“ usw. Vielleicht schon immer ein sprachliches Missverständnis. Aber es klingt gut.

Das Wohnzimmer sieht inzwischen aus, als seien die Hell’s Angels mit ihren Motorrädern ein paar Mal durchgefahren. Auf dem Parkettfußboden schwimmt eine Flüssigkeit aus Schweiß, Schlamm und Schnaps. Die Wände sind verschmiert und feucht, Kondenswasser tropft ab. Nur das Landschaftsgemälde hängt noch dort, wo es vorher war.

Juan Manuel sieht das nicht. Er findet grade langsam die Sprache wieder. „Das ist, als ob die Rolling Stones bei dir zu Hause spielen, ober als ob man mit Diego Maradona in der Mannschaft kickt“, sagt er. „Ich bin glücklich.“ Zumindest heute.