Menschenrechtler kritisieren Verheugen

Türkische Menschenrechtsorganisationen widersprechen EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen. Der hatte behauptet, in der Türkei gebe es keine systematische Folter. Die Menschenrechtler werfen ihm eine verkürzte Sichtweise vor

AUS ANKARA SABINE AM ORDE

Türkische Menschenrechtsorganisationen erheben schwere Vorwürfe gegen EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen. Es sei „unglaublich“, dass Verheugen nach ihren Gesprächen zu dem Ergebnis gekommen sei, es gebe keine systematische Folter in der Türkei. „Es gibt systematische Folter in der Türkei“, sagte der Präsident der türkischen Menschenrechtsstiftung (TIHV), Yavuz Önen, der taz. Es sei ihm unverständlich, wie Verheugen zum gegenteiligen Ergebnis kommen konnte. Ähnlich äußerte sich auch der Präsident der Menschenrechtsvereinigung (IHD), Hüsnü Ondül.

Beide kritisieren, dass Verheugen sich in seiner Definition der systematischen Folter auf nur einen Punkt konzentriere: Ob der Staat die Folter anordne. „Das ist nicht der Fall“, sagt Önen, „aber die Regierung duldet sie.“ Nach Definition des zuständigen UN-Komitees aber liegt systematische Folter vor, „wenn sie nicht nur zufällig an einem bestimmten Ort und einer bestimmten Zeit stattfindet, sondern als Angewohnheit, weit verbreitet und absichtlich in einem großen Teil des Landes angewandt wird“. „Das ist in der Türkei der Fall“, sagte Önen. Dieser Ansicht seien auch die anderen Menschenrechtsgruppen im Land.

Verheugen hatte vergangene Woche nach einem Treffen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan erklärt, es gebe keine systematische Folter in der Türkei. Zu dem Schluss seien von ihm entsandte Experten gekommen. Önen versteht das nicht: Zweieinhalb Stunden lang hätten die Menschenrechtler Verheugens Mitarbeitern erläutert, wie die Situation sei. Verheugen selbst, der Anfang September in Ankara war, habe für ein Gespräch nur wenige Minuten gehabt. Die Menschenrechte sind ein wichtiges Kriterium, ob die EU im Dezember Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnimmt. Verheugen legt nächste Woche Empfehlungen vor.

Erdogan widersprach am Donnerstagabend den Vorwürfen der Menschenrechtler. „Diese Berichte sind unbegründet, es sind Lügen“, sagte er zu deutschen Journalisten in Ankara – und berief sich auf Verheugen. „Es gibt keine systematische Folter in meinem Land. Wer anderes behauptet, ist ideologisch motiviert.“ Auf die Frage, wann die Türkei folterfrei sei, sagte er, es gebe keine Art von Folter mehr.

Die beiden international anerkannten Menschenrechtsvereine fühlen sich von Verheugen im Stich gelassen. „Unsere Situation ist jetzt schwieriger, als sie vor Verheugens Aussage war“, so Önen. Nun stünden die Menschenrechtler als jene da, die dem EU-Beitritt Steine in den Weg legen. Dabei verbinden sie damit selbst große Hoffnungen. „Wenn über den EU-Beitritt verhandelt wird, wird sich die Menschenrechtssituation verbessern“, so Öndül.

Die Menschenrechtler räumen ein, dass sich die Situation verbessert habe, seit die Türkei 1999 EU-Beitrittskandidat wurde. Die AKP hatte bei ihrem Regierungsantritt 2002 angekündigt, Folter nicht mehr zu dulden. Seitdem wurden Gesetze geändert: Die Höchststrafe wurde heraufgesetzt; ohne Anklage können Verdächtige nur noch 48 Stunden festgehalten werden; Polizisten werden in rechtsstaatlichen Standards geschult.

Doch zwischen den Reformen und den Erfahrungen der Folteropfer liegen Welten. „Das ist nicht die Realität“, kritisiert Önen. Die Regierung tue nicht genug, um Folter wirklich abzuschaffen. So würden Folterer weiter selten bestraft. 2003 beobachtete TIHV 41 Prozesse gegen Folterer. Nur vier wurden verurteilt, nur einer bekam eine Haftstrafe. „Die Justiz schützt noch immer die Folterer,“ so Önen. In den ersten acht Monaten 2004 registrierte TIHV 579 Folterfälle.