Zahnloser Atom-Tiger soll zum Zahnarzt

Die EU geht im Atomstreit auf die Deutschen und damit auf die Industrie zu. Sie entschärft die Vorgaben zur Sicherheit

BRÜSSEL taz ■ Die Richtlinien-Entwürfe der EU-Kommission zu „Grundsätzen nuklearer Sicherheit“ und „Umgang mit radioaktivem Müll“ werden jetzt entschärft. Dabei waren schon die Ausgangstexte von Umweltschützern und grünen Atomexperten als Zugeständnis an die Atomlobby kritisiert worden. Die EU-Kommission hatte die beiden Vorschläge im November letzten Jahres veröffentlicht. Der grüne Europaabgeordnete Claude Turmes bezeichnete sie damals als „leere Schachtel, ein PR-Trick von Energiekommissarin Palacio“, mit dem kein einziges Kernkraftwerk sicherer werde.

Eine Durchsicht der von der italienischen Ratspräsidentschaft als Kompromiss vorgeschlagenen Änderungen ergibt, dass der ohnehin zahnlose Ausgangstext zu einer Bestätigung des Status quo herabgestuft werden soll. Die Verantwortung für die Sicherheit von Atomanlagen soll weiterhin beim Betreiber und beim jeweiligen Mitgliedsstaat liegen. Die ursprünglich vorgesehene Kontrollfunktion der EU-Kommission entfällt. Die Idee nationaler Sicherheitsagenturen, die für neue Meiler Betreiberlizenzen ausstellen müssen, wird fallen gelassen. Die deutsche Atomindustrie darf, wenn der Kompromiss durchkommt, ihre steuerfreien Rückstellungen behalten. Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, von den Betreiberfirmen Fonds zu bilden, aus denen nach Ende der Laufzeit die Entsorgung der Meiler und der hochradioaktiven Abfälle hätte bezahlt werden sollen.

„Statt diese Gelder in einem öffentlichen Fonds ihrem Zweck zuzuführen, werden sie als steuerfreies Spielgeld auf anderen Märkten benutzt. Geraten die Betreiberfirmen in Insolvenz, sind die Mittel für die Entsorgung nicht mehr gesichert“, kritisiert die grüne Europaabgeordnete Hiltrud Breyer das deutsche System. Mit dem Richtlinienentwurf über den Umgang mit radioaktivem Müll hatte Brüssel der deutschen Regierung Kopfschmerzen bereitet. Der Ausstiegskompromiss zwischen Energieindustrie und Bundesregierung wäre dadurch in Frage gestellt worden. Endlager für langlebigen hochradioaktiven Müll hätten danach bis spätestens 2018 betriebsbereit sein müssen. Der italienische Kompromiss schreibt nur vor, dass zehn Jahre nach der Genehmigung für einen Standort das Endlager betriebsbereit sein muss.

Sollte der nun vorliegende Text umgesetzt werden, sind neue Konflikte über nukleare Sicherheitsstandards mit den Beitrittsländern der Europäischen Union programmiert. Die Kommission hatte das Nuklearpaket ursprünglich nur vorgelegt, um den Vorwurf zu entkräften, mit zweierlei Maß zu messen. So hatte sich zum Beispiel Tschechien gegen eine teure Nachrüstung des Meilers in Temelín mit dem Argument gewehrt, es gebe keine einheitlichen Sicherheitsstandard für Akws. Tatsächlich gelten in der EU bislang nur die Minimalvorschriften der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien, denen Temelín ohnehin genügt. Die Länder der alten EU, die weiterhin auf Kernkraft setzen, wollen die strengen Standards, die sie den Neuen abverlangen, für sich selbst nicht gelten lassen. DANIELA WEINGÄRTNER

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